Die schöne Diebin
das Geschehen um sich herum zu konzentrieren. Einerseits hatte elegante, modische Kleidung für sie nie die gleiche wichtige Stellung eingenommen wie für viele andere Frauen. Andererseits wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Brandon. Wie, um alles in der Welt, war es ihm gelungen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen? Womit hatte er sie letztlich davon überzeugen können, dass es am besten war, zunächst weiter die Rolle seiner Verlobten zu spielen?
Indem er sie dazu brachte, noch eine Zeit lang in seinem Haus zu leben, hatte er einen Sieg davongetragen. Es war kein besonders großer Sieg, denn sie hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, ihm voreilige Versprechungen zu machen. Aber immerhin stand sie jetzt hier und ließ es über sich ergehen, dass vier Frauen um sie herumwieselten.
Nun, es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass Brandon sie beschützen wollte. Es war auch schön, sich vorzustellen, noch einige Nächte an seiner Seite zu verbringen. Nach all den Jahren der Enthaltsamkeit genoss Nora die leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der er sie umwarb. Dennoch war sie sich nach wie vor sicher, dass sie nicht mit einem anderen Mann zusammenleben konnte, solange sie sich als verheiratete Frau betrachten musste. Sie würde weder Stockports Gattin werden noch seine Mätresse sein können. Es widersprach einfach ihrer Vorstellung von dem, was gut und richtig war.
Außerdem gab es noch einen Punkt, den sie nicht außer Acht lassen durfte: Wenn sie das Leben der Katze aufgab, um bei Brandon zu bleiben, würden ihre jetzt schon tiefen Gefühle für ihn immer stärker werden. Nichts fürchtete sie mehr, als dass aus ihrer Zuneigung und Bewunderung für Stockport Liebe werden könnte. Denn eines Tages – dessen war sie sich ganz sicher – würde er mit einer anderen Frau eine Familie gründen oder sich zumindest eine neue Mätresse nehmen. Und wie sollte sie das ertragen?
Unter halb geschlossenen Lidern hervor schaute sie zu ihm hin. Er war die ganze Zeit über bei ihr geblieben, hatte ihr lächelnd gesagt, was ihr besonders gut stand, und sich mit der Schneiderin unterhalten wie ein Fachmann für Damenmode. Nun, vermutlich war er das auch …
Er wirkte entspannt, doch die Pose mochte trügen. Nora jedenfalls spürte, wie ihr dies alles langsam zu viel wurde. Wie viele Stunden stand sie jetzt schon hier? Wie viele Stoffe hatte sie begutachtet, wie viele Schnitte angeschaut? Gerade hielt ihr Madame Nourell zwei Stückchen Seide hin und fragte: „Ziehen Sie dieses Erdbeerrot vor, Miss Hammersmith? Oder gefällt Ihnen das Kirschrot besser?“
Sie sah kaum einen Unterschied. Und plötzlich war sie mit ihrer Geduld am Ende. „Ich ziehe Grün vor“, erklärte sie.
Die Schneiderin war schockiert. Vermutlich gab es für eine echte Dame so etwas Einfaches wie Grün gar nicht. Es gab Jadegrün, Smaragdgrün, Olivgrün oder auch Grasgrün.
Brandon rettete die Situation, indem er in die Hände klatschte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. „Meine Verlobte sieht in Moosgrün wirklich bezaubernd aus“, erklärte er. „Doch nun wollen wir erst einmal aufhören. Madame, ich danke Ihnen und Ihren Assistentinnen für Ihre Mühe. Darf ich hoffen, dass Sie schon morgen die ersten Kleidungsstücke liefern können?“
„Selbstverständlich, Mylord. Morgen Nachmittag werde ich einen Boten zu Ihnen schicken.“ Die Schneiderin und ihre Gehilfinnen hatten in Windeseile alles zusammengepackt.
Als die Tür hinter den vier Frauen ins Schloss fiel, wandte Brandon sich zu Nora um und fragte: „Erschöpft, Liebes?“
Sie lachte. Was sollte daran anstrengend sein, mal den rechten, mal den linken Arm zu heben, sich um die eigene Achse zu drehen, sich Stoffmuster anzuschauen und ansonsten nur herumzustehen? „Gelangweilt“, stellte sie fest, „und auch ein bisschen amüsiert. Himmel, wie kann man sich nur so viele verschiedene Namen für eine einzige Farbe wie beispielsweise Rot ausdenken?“
„Ja, es ist schon erstaunlich … Doch lass uns jetzt nicht mehr daran denken. Gleich wird ein Imbiss serviert. Bist du hungrig?“
In diesem Moment erschien einer der Bediensteten mit einem schweren Tablett. Rasch deckte er den Tisch und zog sich dann mit einer tiefen Verbeugung zurück. Nora wurde bewusst, dass sie – schon wieder – mit Brandon allein war. Seltsamerweise machte diese Tatsache sie nervös.
Schweigend goss sie ihm und sich selbst eine Tasse Tee ein. Er dankte ihr und trank.
Dann griff er nach einem
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