Die schöne Diebin
wir tun konnten, war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich vermochte das Elend kaum zu ertragen.“
Noch immer hielt Brandon ihre Hand. Sie schien es allerdings nicht zu bemerken. Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit. Es dauerte eine Weile, bis sie zu sprechen fortfuhr. „Mama überlebte den Tod meines Vaters nur um wenige Monate. Der schmerzliche Verlust raubte ihr den Lebenswillen. Als ich vierzehn war, schlief sie eines Abends ein und wachte am nächsten Morgen nicht mehr auf. Krank war sie nicht gewesen. Sie hatte einfach aufgegeben.“
„Arme Nora“, murmelte Brandon.
„Ich wurde nach Bradford geschickt, zu den einzigen Verwandten, die ich besaß. Dort war alles anders, als ich es gewöhnt war. Mein Onkel war nicht arm, sein Haus war groß, und die Mahlzeiten waren üppig. Doch mit meinem Einzug verlor ich alle Freiheiten. Ich musste streng geschnittene, hochgeschlossene Kleider tragen, durfte das Haus praktisch nie verlassen, erhielt keinen Unterricht mehr. Alle waren höflich zu mir, aber niemand freundlich oder gar liebevoll. Zuerst hielt mich die Trauer um meine Eltern davon ab, mich mit meiner Situation näher auseinanderzusetzen. Später erwachte Unzufriedenheit in mir und Trotz. Es traf mich besonders, dass ich den Armen und Kranken nicht mehr helfen sollte. Mein Onkel war der Meinung, sie hätten ihr Elend selbst verschuldet. Einige Male versuchte ich, mich über die strengen Regeln hinwegzusetzen. Zur Strafe erhielt ich Stubenarrest.“
„Dann ist irgendwann dieser Reggie Portman aufgetaucht.“
„Ja. Als ich siebzehn war, teilte mein Onkel mir mit, dass er einen Gatten für mich ausgesucht habe, einen Mann, der noch strenger war als er selbst. Zunächst versuchte ich, mich damit abzufinden. Aber es war unmöglich. Ich hatte mir immer ein anderes Leben gewünscht. Das Dasein an der Seite dieses Gentleman wäre mir vorgekommen wie eine lebenslange Gefängnisstrafe. In meiner Verzweiflung schlich ich mich eines Nachmittags aus dem Haus. Eigentlich hatte ich nur ein wenig in der Stadt herumlaufen wollen. Doch dann stellte ich fest, dass gerade ein Jahrmarkt veranstaltet wurde. Dort lernte ich Reggie kennen, der …“
Sie verstummte, und Brandon vollendete den Satz für sie. „… der dich mit seinem charmanten Benehmen sogleich für sich einnahm.“
„Hm … Für den nächsten Tag lud er mich zum Tee in einen Gasthof ein. Ich wagte es tatsächlich, mich noch einmal aus dem Haus zu stehlen. Wir redeten viel. Er schien verständnisvoll zu sein. Er bot mir an, mich zu heiraten. Als fahrender Kaufmann würde er sich nicht lange in Bradford aufhalten. Ich würde meinen Onkel und sein strenges Regiment buchstäblich hinter mir lassen können. Das erschien mir sehr verlockend.“
„Also wurdest du erst Mrs. Portman und dann The Cat. Hat dein Gatte dir alles beigebracht, was eine Einbrecherin können muss?“
„Nein.“
„Aber …“
Sie unterbrach ihn. „Reggie hatte nichts damit zu tun. Er ist ein schlechter Mensch. Ich hingegen habe nie etwas Böses getan.“
„Darüber ließe sich streiten.“
„Tja, aber wenn wir das jetzt tun, wirst du das Ende meiner Geschichte heute nicht mehr hören.“
„Verzeih mir! Natürlich möchte ich erfahren, wie es weiterging.“
„Anfangs fand ich es aufregend, mit Reggie von Ort zu Ort zu ziehen. Er war nett zu mir und ließ mir eine Menge Freiheiten. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, eingehend zu beobachten, was um mich herum geschah. Was ich sah, war bedrückend. Die Armen wurden immer ärmer, während die Reichen noch mehr Reichtümer anhäuften, ohne auch nur die geringste Rücksicht auf andere zu nehmen. Ich beschloss, etwas dagegen zu unternehmen.
Ich sprach mit Reggie darüber. Aber er war der Meinung, die anderen gingen uns nichts an. Zunächst hoffte ich noch, er würde mich unterstützen, um mir eine Freude zu machen. Schließlich hatte er mich anfangs immer wieder mit kleinen Geschenken verwöhnt. Bestimmt würde er mir einen Wunsch, der mir so wichtig war, nicht abschlagen. Nun, ich irrte mich. Er liebte sein Geld mehr als mich.“ Sie seufzte. „Dann stellte ich auch noch fest, dass er einen Teil der Waren, die er verkaufte, nicht rechtmäßig erworben hatte.“
„Du bist mit ihm durchgebrannt, weil du ihn für großzügig und mitfühlend hieltest. Und er hat dich verraten und im Stich gelassen.“
„Ja. Es war schlimm für mich, erkennen zu müssen, dass er im Grunde nur ein ungewöhnlich charmanter Gauner war.
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