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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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erwiderte Marc.
    »Der was sieht?... Oh, mein Gott, wo ist Lucien?« fragte er plötzlich.
    »Scheiße, ich glaube, wir haben ihn unten gelassen.«
    Lucien, der den Inhalt von annähernd zwanzig Pappbechern getrunken hatte, war nicht über die erste Etappe hinausgekommen und auf der fünften Stufe eingeschlafen. Marc und Mathias packten ihn jeder unter einem Arm.
    Vandoosler, der in ausgezeichneter Verfassung war und Sophia bis zu ihrer Tür gebracht hatte, kam herein.
    »Hübsches Gemälde«, bemerkte er. »Die drei Evangelisten klammern sich aneinander und proben den unmöglichen Aufstieg.«
    »Verdammt«, sagte Mathias und hob Lucien an, »warum haben wir ihn bloß im dritten Stock untergebracht?«
    »Wir haben ja nicht ahnen können, daß er saufen kann wie ein Loch«, antwortete Marc. »Und denk dran, daß es keine andere Möglichkeit gab. Zunächst einmal die Chronologie: Im Erdgeschoß das Unbekannte, das Mysterium des Ursprungs, das allgemeine Chaos, der schwelende Misthaufen, kurz, die Gemeinschaftsräume. Im ersten Stock leichte Überwindung des Chaos, kümmerliches Gestammel, der nackte Mensch richtet sich schweigend auf, kurz, du, Mathias. Wenn man dann die Leiter der Zeit weiter hinaufsteigt...«
    »Was brüllt denn der so?« fragte Vandoosler der Ältere.
    »Er deklamiert«, erklärte Mathias. »Das ist sein gutes Recht. Es gibt keine bestimmte Zeit für Redner.«
    »Wenn man die Leiter der Zeit weiter hinaufsteigt,« fuhr Marc fort, »die Antike überspringt und ohne Umschweife das ruhmvolle zweite Jahrtausend erreicht, kommen die Gegensätze, die Kühnheiten, die Mühsal des Mittelalters, kurz, ich, im zweiten Stock. Darüber dann der beginnende Verfall, der Niedergang, die Zeitgeschichte. Kurz, der hier«, fuhr Marc fort und schüttelte Lucien am Arm. »Er in seinem dritten Stock, der mit dem schmählichen Weltkrieg die Stufenfolge der Geschichte wie auch des Treppenhauses abschließt. Noch weiter oben dann der Pate, der nach wie vor auf seine ganz besondere Weise in der Gegenwart wütet.«
    Marc hielt inne und seufzte.
    »Verstehst du, Mathias, selbst wenn es praktischer wäre, den Typen im ersten Stock unterzubringen, können wir es uns nicht erlauben, die Chronologie umzustürzen, die Stufenfolge der Treppe umzuwerfen. Die Leiter der Zeit ist alles, was uns bleibt, Mathias! Wir können dieses Treppenhaus nicht verhunzen, es ist das einzige, was wir in eine richtige Reihenfolge gebracht haben. Das einzige, Mathias! Wir können es nicht auf den Kopf stellen.«
    »Du hast recht«, sagte Mathias. »Der Weltkrieg muß bis zum dritten Stock geschleppt werden.«
    »Wenn ich meine Meinung sagen darf«, unterbrach Vandoosler sie mit sanfter Stimme, »dann seid ihr einer so besoffen wie der andere, und es wäre mir lieb, wenn ihr den heiligen Lukas nun endlich bis zu der ihm entsprechenden historischen Schicht schleppen würdet, damit ich die verkommenen Zeitebenen erreichen kann, auf denen ich wohne.«
     
    Am nächsten Tag um halb zwölf sah Lucien zu seiner großen Überraschung, wie Mathias sich mehr recht als schlecht fertig machte, um zur Arbeit zu gehen. Von den letzten Ereignissen des Abends, vor allem von Mathias’ Anstellung als Kellner bei Juliette Gosselin, hatte er keinen Schimmer.
    »Doch«, sagte Mathias, »du hast Sophia Simeonidis sogar zweimal in die Arme genommen, um dich dafür zu bedanken, daß sie gesungen hat. Das war ein bißchen sehr vertraulich, Lucien.«
    »Ich erinnere mich an nichts mehr«, erwiderte Lucien. »Du gehst also an die Ostfront? Und ziehst zufrieden ins Feld? Mit der Blume im Gewehr? Weißt du, daß man immer glaubt, man überwindet die Scheiße in vierzehn Tagen, in Wirklichkeit aber dauert es endlos?«
    »Du hast wirklich getrunken wie ein Loch«, bemerkte Mathias.
    »Wie ein Granatloch«, präzisierte Lucien. »Viel Glück, Soldat.«

 
     
12
     
    Mathias gab sich große Mühe an der Ostfront. Wenn Lucien nicht unterrichtete, überquerte er mit Marc die Frontlinie, und sie gingen gemeinsam ins Tonneau essen, um Mathias aufzumuntern und weil sie sich dort wohl fühlten. Donnerstags aß auch Sophia Simeonidis dort zu Mittag. Schon seit Jahren jeden Donnerstag.
    Mathias servierte bedächtig, Tasse für Tasse, ohne großes Jonglieren. Drei Tage später hatte er den Gast identifiziert, der seine Chips mit der Gabel aß. Sieben Tage später hatte Juliette sich angewöhnt, ihm das zuviel Gekaufte aus der Küche mitzugeben, und die Abendessen in der Bruchbude waren

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