Die schöne Diva von Saint-Jacques
Vorwürfe machen, daß ich ihre kleinen Geschichtchen einfachen Nachbarn erzählt habe.«
»Man kann Nachbar sein, ohne einfach zu sein«, bemerkte Lucien.
»Und außerdem gibt’s da den Baum«, sagte Vandoosler sanft. »Der Baum zwingt zum Reden.«
»Der Baum? Was für ein Baum?«
»Später«, sagte Vandoosler. »Erzählen Sie, was Sie wissen.«
Es war schwer, der klangvollen Stimme des alten Bullen zu widerstehen. Es gab keinen Grund, weshalb Juliette eine Ausnahme hätte sein sollen.
»Sie ist damals mit einem Freund aus Griechenland gekommen«, begann Juliette. »Er hieß Stelyos. Ein Getreuer, ein Beschützer, wie sie sagte, aber wenn ich es richtig verstanden habe, ein Fanatiker, sehr verführerisch und verletzlich, der niemanden an sie heranließ. Sophia wurde von Stelyos auf Händen getragen, verhätschelt und bewacht. Bis sie Pierre begegnete und ihren Gefährten verließ. Anscheinend löste das ein schreckliches Drama aus, und Stelyos versuchte sich umzubringen, oder sowas. Ja, genau, er wollte sich ertränken, aber es hat nicht geklappt. Dann hat er getobt, wild herumgestikuliert und gedroht, und schließlich hat sie nie wieder was von ihm gehört. Das ist alles. Also nichts Spektakuläres. Seltsam ist nur die Art und Weise, in der Sophia davon redet. Irgendwie beunruhigt. Sie glaubt, daß Stelyos eines Tages zurückkommen wird und daß dann niemand mehr etwas zu lachen hat. Sie sagt, er sei ›sehr griechisch‹ vollgestopft mit alten griechischen Geschichten, glaube ich, und das würde nie aufhören. Die Griechen waren wer, früher. Sophia meint, das vergißt man nur allzu leicht. Kurz und gut, vor drei Monaten, nein, dreieinhalb Monaten hat sie mir eine Karte gezeigt, die sie aus Lyon bekommen hat. Auf der Karte war nur ein Stern, außerdem nicht mal gut gezeichnet. Ich fand das nicht sonderlich interessant, aber Sophia hat es völlig durcheinandergebracht. Ich habe gedacht, der Stern könnte Schnee oder Weihnachten bedeuten, aber sie war überzeugt davon, es wäre ein Zeichen von Stelyos und würde nichts Gutes verheißen. Anscheinend hat Stelyos immer Sterne gezeichnet. Die Griechen haben wohl die Vorstellung erfunden, daß die Sterne eine Bedeutung haben. Dann aber ist nichts passiert, und sie hat’s vergessen. Das ist alles. Nur, jetzt mache ich mir Sorgen. Ich frage mich, ob Sophia eine weitere Karte bekommen hat. Vielleicht hatte sie gute Gründe, Angst zu haben. Das sind so Sachen, die man nicht verstehen kann. Die Griechen waren wer.«
»Wie lange ist sie schon mit Pierre verheiratet?« fragte Marc.
»Lange... Fünfzehn Jahre, zwanzig Jahre...«, antwortete Juliette. »Offen gestanden, ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein Typ sich zwanzig Jahre später rächen will. Man hat doch anderes im Leben zu tun, als an seinen Enttäuschungen herumzukauen. Stellen Sie sich das mal vor! Wenn alle Verlassenen dieser Welt auf ihrer Sache herumkauen würden, um sich zu rächen, wäre die Erde ein richtiges Schlachtfeld. Eine Wüste... Oder?«
»Manchmal kann man noch lange danach an jemanden denken«, sagte Vandoosler.
»Ich kann ja verstehen, daß man jemanden sofort umbringt«, fuhr Juliette fort, ohne zuzuhören. »Sowas kommt vor. Heißblütigkeit. Aber sich zwanzig Jahre später so zu erregen, da komm ich nicht mit. Doch Sophia scheint an solche Reaktionen zu glauben. Das muß griechisch sein, keine Ahnung. Ich erzähl es nur, weil Sophia dem soviel Bedeutung beimißt. Ich denke, daß sie sich Vorwürfe macht, weil sie ihren griechischen Freund verlassen hat; da Pierre sie enttäuscht hat, war das vielleicht ihre Art, sich an Stelyos zu erinnern. Sie hat zwar gesagt, sie habe Angst vor ihm, aber ich glaube, daß sie immer gern an Stelyos gedacht hat.«
»Pierre hat sie enttäuscht?« fragte Mathias.
»Ja«, antwortete Juliette. »Pierre achtet auf gar nichts mehr, na ja, zumindest nicht mehr auf sie. Er redet mit ihr, aber mehr nicht. Er führt Konversation, wie Sophia sagt, und liest stundenlang seine Zeitungen, ohne auch nur den Kopf zu heben, wenn sie vorbeigeht. Anscheinend fängt das schon morgens an. Ich habe ihr gesagt, das wäre normal, aber sie findet es traurig.«
»Also?« fragte Lucien. »Also? Wenn sie mit ihrem griechischen Freund abgehauen ist, geht uns das doch nichts an!«
»Aber das Kalbsgeschnetzelte«, wandte Juliette bockig ein. »Sie hätte mir Bescheid gegeben. Jedenfalls würde ich’s gerne wissen. Es würde mich beruhigen.«
»Es ist weniger das
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