Die schöne Diva von Saint-Jacques
der seine Chips mit der Gabel aß, oder von dem Typen, der immer dienstags kam und sich während des gesamten Mittagessens in einem Taschenspiegel betrachtete. Um drei Uhr morgens wird man tolerant gegenüber Geschichten – denen, die man hört, und denen, die man erzählt. So ließ man also Vandoosler den Älteren ein paar Kriminalstorys zum besten geben. Er erzählte bedächtig und mit eindringlicher Stimme. Das lullte sie alle ordentlich ein. Luciens Bedenken hinsichtlich der Offensiven von der Ost- und der Westfront verschwanden. Mathias holte Wasser und setzte sich wieder, diesmal aber nicht im direkten Blickfeld von Juliette. Das überraschte Marc, der sich in Gefühlsdingen selten täuschte, mochten sie noch so flüchtig und vorübergehend sein. Mathias war offenbar nicht so leicht durchschaubar wie andere. Vielleicht war er verschlüsselt. Juliette flüsterte Sophia etwas ins Ohr. Sophia schüttelte den Kopf. Juliette drängte. Man konnte nichts hören, aber Mathias sagte:
»Wenn Sophia Simeonidis nicht singen will, soll man sie nicht zwingen.«
Juliette war überrascht, und Sophia änderte plötzlich ihre Meinung. Es kam nun zu einem höchst seltenen Ereignis: Sophia Simeonidis sang in ganz privatem Kreis für vier Männer, die um drei Uhr morgens in einem Bistrot versammelt waren, am Klavier begleitet von Juliette, die ein gewisses Talent hatte, aber ganz offensichtlich vor allem geübt war, Sophia zu begleiten. Vermutlich gab Sophia an manchen Abenden, wenn das Lokal bereits geschlossen war, solche kleinen Konzerte im verborgenen, weitab von der Bühne, nur für sich allein und ihre Freundin.
Nach einem solchen einzigartigen Augenblick weiß man nie, was man eigentlich sagen soll. Müdigkeit überkam die Erdarbeiter. Sie standen auf und zogen ihre Jacken an. Das Restaurant wurde geschlossen, und alle machten sich in dieselbe Richtung auf. Erst als sie bereits vor ihrem Haus angekommen waren, sagte Juliette, daß zwei Tage zuvor ein Kellner gegangen sei, ohne sie vorher zu informieren. Juliette zögerte, bevor sie fortfuhr. Sie habe vorgehabt, tags darauf eine Anzeige aufzugeben, aber da sie den Eindruck habe, daß... da sie gehört habe, daß...
»Daß wir in der Scheiße sitzen«, ergänzte Marc.
»Ja, genau«, sagte Juliette, deren Gesicht wieder lebendig wurde, weil die größte Klippe überwunden war. »Heute abend, als ich Klavier spielte, habe ich gedacht, daß die Stelle schließlich, wenn man schon arbeiten muß, auch einen von Ihnen interessieren könnte. Wenn man studiert hat, ist ein Job als Kellner nicht gerade der Traum, aber als Zwischenlösung...«
»Woher wissen Sie, daß wir studiert haben?« fragte Marc.
»Das merkt man schnell, wenn man selbst nicht studiert hat«, erwiderte Juliette und lachte in die Nacht.
Marc wußte nicht recht warum, aber er fühlte sich ein bißchen befangen. Ertappt, durchschaut, ein bißchen gekränkt.
»Und das Klavierspiel?« fragte er.
»Das mit dem Klavier ist etwas anderes«, antwortete Juliette. »Mein Großvater hatte einen Bauernhof und war musikbegeistert. Er kannte sich ausgezeichnet aus mit Rüben, Flachs, Weizen, mit Musik, mit Roggen und Kartoffeln. Er hat mich fünfzehn Jahre lang gezwungen, Musikunterricht zu nehmen. Das war so eine fixe Idee von ihm... Als ich nach Paris kam, bin ich putzen gegangen, und mit dem Klavier war Schluß. Erst sehr viel später habe ich wieder anfangen können, weil er mir bei seinem Tod viel Geld hinterlassen hat. Großvater hatte viele Hektar Land und viele fixe Ideen. Es gab eine Bedingung, um das Erbe antreten zu können: Er hatte gefordert, daß ich wieder mit dem Klavierspielen anfange... Natürlich«, fuhr Juliette lachend fort, »hat der Notar mir gesagt, daß die Bedingung, juristisch betrachtet, keine Gültigkeit habe. Aber ich wollte Großvaters fixe Idee respektieren. Ich habe das Haus, das Restaurant und ein Klavier gekauft. So kam das.«
»Stehen deshalb so häufig Rüben auf der Karte?« fragte Marc lächelnd.
»Ja, genau deshalb«, erwiderte Juliette. »Rüben in jeder Form.«
Fünf Minuten später war Mathias eingestellt. Er strahlte und preßte seine Hände aneinander. Als sie später die Treppe hinaufstiegen, fragte er Marc, warum er gelogen habe, als er sagte, er könne den Job nicht annehmen, er habe etwas in Aussicht.
»Weil es stimmt«, sagte Marc.
»Es stimmt nicht. Du hast nichts in Aussicht. Warum hast du den Job nicht genommen?«
»Als erster nimmt, wer als erster sieht«,
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