Die schöne Diva von Saint-Jacques
Kalbsgeschnetzelte als der Baum«, bemerkte Marc. »Ich weiß nicht, ob wir da untätig zusehen können: Eine Frau verschwindet, ohne etwas zu sagen, den Ehemann läßt das kalt, und dann noch der Baum. Das ist ein bißchen viel. Was denkst du darüber, Kommissar?«
Armand Vandoosler hob sein schönes Gesicht. Jetzt hatte er wieder seinen Polizistenkopf. Der konzentrierte Blick unter den Augenbrauen, die mächtige, angriffslustige Nase, Marc kannte das. Der Pate hatte ein sehr wandlungsfähiges Gesicht, an dem man die verschiedenen Register seiner Gedanken gut ablesen konnte. Hinter den finsteren Zügen verbargen sich seine Zwillinge und die irgendwohin verschwundene Frau, hinter den sachlichen Zügen irgendeine Recherche, hinter leuchtenden Zügen ein zu verführendes Mädchen. Um es zu vereinfachen. Manchmal mischte sich alles, und die Sache wurde komplizierter.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Vandoosler. »Aber ganz allein kann ich nicht viel ausrichten. Soweit ich neulich abend mitbekommen habe, wird Pierre Relivaux dem erstbesten dahergelaufenen Ex-Bullen gar nichts sagen. Ganz gewiß nicht. Er ist ein Mann, der sich nur Autoritäten beugt. Trotzdem sollten wir Bescheid wissen.«
»Worüber?« fragte Marc.
»Wissen, ob Sophia ihrem Mann einen Grund für ihr Verschwinden genannt hat und wenn ja, welchen, und wissen, ob etwas unter dem Baum ist.«
»Fängt das schon wieder an!« rief Lucien. »Unter dem verdammten Baum ist nichts! Nur Tonpfeifen aus dem 18. Jahrhundert! Außerdem noch kaputte.«
»Unter dem Baum war nichts«, präzisierte Vandoosler. »Aber... heute?«
Juliette sah verständnislos von einem zum anderen.
»Was ist denn das für eine Geschichte mit dem Baum?« fragte sie.
»Die junge Buche«, antwortete Marc ungeduldig. »Vor der hinteren Mauer in ihrem Garten. Sie hatte uns gebeten, darunter zu graben.«
»Die Buche? Die kleine, neugepflanzte?« fragte Juliette. »Aber Pierre hat mir selbst gesagt, daß er sie hat pflanzen lassen, um die Mauer zu kaschieren!«
»So, so«, sagte Vandoosler. »Sophia hat er etwas anderes gesagt.«
»Was für ein Interesse sollte ein Mann haben, nachts einen Baum zu pflanzen, ohne es seiner Frau zu sagen? Um sie grundlos in Angst zu versetzen? Das wäre dumm und gemein«, sagte Marc.
Vandoosler wandte sich Juliette zu.
»Hat Sophia sonst nichts gesagt? Über Pierre? Irgendeine Rivalin in Sicht?«
»Sie hat keine Ahnung«, antwortete Juliette. »Pierre verschwindet manchmal samstags oder sonntags für längere Zeit. Um an die frische Luft zu gehen. Die Sache mit der frischen Luft glaubt ihm keiner so recht. Sie stellt sich schon Fragen – wie alle anderen auch. Also, für mich ist das keine Frage, die mir Sorgen bereiten würde. Na ja, bei mir gibt’s auch keinen Grund, auch ein Vorteil.«
Sie lachte. Mathias sah sie noch immer reglos an.
»Wir müssen das rauskriegen«, sagte Vandoosler. »Ich werde versuchen, mit dem Ehemann ins Gespräch zu kommen. Hast du morgen Unterricht, heiliger Lukas?«
»Er heißt Lucien«, murmelte Mathias.
»Morgen ist Samstag«, sagte Lucien. »Ein freier Tag für alle Heiligen, Soldaten auf Urlaub und einen Teil der restlichen Bevölkerung.«
»Du und Marc, ihr beschattet Pierre Relivaux. Er ist ein vielbeschäftigter und vorsichtiger Mann. Wenn es eine Geliebte gibt, dann wird er ihr klassischerweise das Samstag-Sonntag-Feld reserviert haben. Habt ihr schon mal jemanden beschattet? Wißt ihr, wie man das macht? Natürlich nicht. Kaum habt ihr eure historischen Forschungen aufgegeben, seid ihr zu nichts mehr nütze. Trotzdem sollten drei Forscher, die in der Lage sind, ihre Netze auszuwerfen, um eine nicht mehr faßbare Vergangenheit heraufzuholen, auch in der Lage sein, die Gegenwart in den Griff zu kriegen. Oder widert euch die Gegenwart womöglich an?«
Lucien verzog das Gesicht.
»Und Sophia?« fragte Vandoosler. »Ist die euch egal?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Marc.
»Gut. Heiliger Lukas und heiliger Markus, ihr verfolgt das ganze Wochenende die Fährte von Relivaux. Ohne ihn eine Minute aus den Augen zu lassen. Der heilige Matthäus arbeitet, er soll mit Juliette im Tonneau bleiben und die Ohren offenhalten, man weiß nie. Was den Baum angeht...«
»Was sollen wir mit dem machen?« fragte Marc. »Wir können doch nicht noch mal das Spiel mit den städtischen Arbeitern spielen. Du denkst doch nicht im Ernst, daß...«
»Alles ist möglich«, entgegnete Vandoosler. »Was den Baum angeht, so müssen
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