Die schöne Diva von Saint-Jacques
Gemeinsamkeiten. Mit Mathias gar keine. Aber es war leicht, mit Mathias zu reden, und zwar über alles, was man wollte, und das war wirklich angenehm.
»Komm nicht vor Dienstag wieder«, sagte Juliette, die sich offenbar ganz plötzlich entschieden hatte. »Wir machen das übers Wochenende zu. Ich fahr mal nach Hause, in die Normandie. Alle diese Geschichten von Löchern und Bäumen machen mich ganz trübsinnig. Ich werde mir Gummistiefel anziehen und im nassen Gras spazierengehen. Ich mag Gummistiefel und die Zeit Ende Mai.«
»Das ist eine gute Idee«, bemerkte Mathias, der sich Juliette überhaupt nicht in Gummistiefeln vorstellen konnte.
»Eigentlich könntest du mitkommen, wenn du magst. Ich glaube, es wird schönes Wetter. Du bist bestimmt jemand, der das Land mag.«
»Das ist wahr«, sagte Mathias.
»Du kannst den heiligen Markus und den heiligen Lukas und auch den funkelnden alten Kommissar mitbringen, wenn ihr Lust habt. Mir liegt nicht so sehr an Einsamkeit. Das Haus ist groß, es gibt Platz für alle. Na, macht, wie ihr wollt. Habt ihr ein Auto?«
»Wir haben kein Auto mehr, weil wir in der Scheiße sitzen. Aber ich weiß, wo wir eins leihen können. Ich habe noch einen Freund in einer Werkstatt. Warum sagst du ›funkelnd‹?«
»Nur so. Er hat ein schönes Gesicht, nicht? Mit seinen Falten erinnert er mich an eine dieser überladenen spätgotischen Kirchen, die in alle Richtungen streben und die so aussehen, als ob sie reißen würden, wie löchriger Stoff, und die trotzdem stehenbleiben. Er imponiert mir schon.«
»Kennst du dich denn mit Kirchen aus?«
»Stell dir vor, als ich klein war, bin ich regelmäßig zur Messe gegangen. Manchmal hat unser Vater uns sonntags bis zur Kathedrale von Évreux geschleppt, und während der Predigt habe ich die Broschüre über die Kathedrale gelesen. Du brauchst nicht weiter zu suchen, das ist alles, was ich von den überladenen spätgotischen Kirchen weiß. Ärgert dich das, wenn ich sage, daß der Alte mich an die Kathedrale von Évreux erinnert?«
»Aber nein«, erwiderte Mathias.
»Ich kenne übrigens doch noch andere außer der in Évreux. Die kleine Kirche von Caudebeuf. Schwer, schlicht, sehr alt, sie hat für mich etwas Beruhigendes. Aber damit hört es schon auf mit Kirchen und allem, was ich über sie weiß.«
Juliette lächelte.
»Jetzt habe ich wirklich Lust, viel zu laufen. Oder Fahrrad zu fahren.«
»Marc hat sein Fahrrad verkaufen müssen. Hast du vielleicht mehrere?«
»Zwei. Also, wenn ihr Lust habt zu kommen: Das Haus ist in Verny-sur-Besle, ein Dorf nicht weit von Bernay, ein Nest. Wenn du die Route Nationale nimmst, ist es der große Bauernhof links von der Kirche. Der Hof heißt ›Le Mesnil‹. Da gibt es ein kleines Flüßchen und Apfelbäume, lauter Apfelbäume. Keine Buchen. Kannst du dir das merken?«
»Ja«, sagte Mathias.
»Ich verschwinde jetzt«, sagte Juliette und ließ die Rolläden herunter. »Ihr braucht mir nicht extra Bescheid zu geben, wenn ihr kommt. Telefon gibt es sowieso nicht.«
Sie lachte, küßte Mathias auf die Wange und verschwand winkend. Mathias stand allein auf dem Bürgersteig. Die Autos stanken. Er dachte, er könnte vielleicht in dem kleinen Flüßchen baden, wenn die Sonne sich halten würde. Juliette hatte weiche Haut, und es war angenehm, wenn sie auf einen zukam. Mathias setzte sich in Bewegung und ging mit sehr langsamen Schritten zur Bruchbude. Die Sonne wärmte seinen Nacken. Die Versuchung war groß, eindeutig. Die Versuchung, in dieses Kaff Verny-sur-Besle einzutauchen und mit dem Fahrrad bis nach Caudebeuf zu fahren, auch wenn er mit diesen kleinen Kirchen nicht viel am Hut hatte. Marc dagegen würde die Kirche gefallen. Denn es kam nicht in Frage, alleine hinzufahren. Allein mit Juliette, mit ihrem Lachen, ihrem rundlichen, gelenkigen, weißen und entspannten Körper – das Eintauchen könnte zu einem Versinken werden. Das Risiko war Mathias recht klar, und in gewisser Weise fürchtete er es. Er fühlte sich in diesem Moment so schwerfällig. Klüger wäre es, die beiden anderen und auch den Kommissar mitzunehmen. Der Kommissar würde die Kathedrale von Évreux in all ihrer prachtvollen Größe und zerfransten Dekadenz besichtigen. Vandoosler zu überzeugen wäre einfach. Der Alte bewegte sich gern, sah sich gern um. Dann den Kommissar die beiden anderen überzeugen lassen. Die Idee war jedenfalls gut. Es würde allen gut tun, auch wenn Marc lieber in Städten herumzog und Lucien gegen
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