Die schöne Diva von Saint-Jacques
»Er profitiert immerhin als erster davon, oder? Außerdem hat er eine Geliebte.«
»Für Relivaux sieht es in der Tat nicht gut aus, das stimmt. Ziemlich häufige nächtliche Abwesenheit, seitdem seine Frau verschwunden ist. Aber er hat nichts dafür getan, daß sie wiedergefunden wurde, denk daran. Und ohne Leiche keine Erbschaft.«
»Blödsinn! Er wußte sehr gut, daß man sie so oder so eines Tages finden würde!«
»Möglich«, sagte Vandoosler. »Leguennec läßt ihn ebenfalls nicht aus den Klauen, mach dir keine Sorgen.«
»Und der Rest der Familie?« fragte Marc. »Lex, erzähl vom Rest der Familie.«
»Frag deinen Onkel«, erwiderte Alexandra, »er scheint ja alles zu wissen, bevor es die anderen wissen.«
»Da, iß Brot«, sagte Mathias zu Marc. »Das entspannt die Kiefer.«
»Glaubst du?«
Mathias nickte und streckte ihm eine Scheibe hin. Marc mampfte wie ein Verrückter, während er zuhörte, wie Vandoosler fortfuhr, seine Erkenntnisse zu verbreiten.
»Dritter Erbe: der Vater von Sophia, der in Dourdan lebt«, sagte Vandoosler. »Simeonidis der Ältere ist ein begeisterter Anhänger seiner Tochter. Er hat kein einziges Konzert von ihr verpaßt. In der Pariser Oper hat er seine zweite Frau kennengelernt. Die war dort, um ihren Sohn auf der Bühne zu sehen, einen kleinen Statisten, und darauf war sie sehr stolz. Dann war sie sehr stolz, den Vater der Sängerin kennenzulernen, weil sie zufällig nebeneinander in einer der vorderen Reihen saßen. Zunächst hat sie sicher gedacht, daß er ein gutes Sprungbrett für ihren Sohn wäre, aber nach und nach sind sie sich nähergekommen, haben geheiratet und sind in das Haus in Dourdan gezogen. Halten wir zwei Punkte fest: Simeonidis ist nicht reich, und er fährt noch immer Auto. Aber die Grundtatsache bleibt: er ist ein begeisterter Anhänger seiner Tochter. Ihr Tod hat ihn völlig niedergeschmettert. Er hat alles über sie gesammelt, was gesagt, geschrieben, fotografiert, gebrabbelt, geflüstert oder gezeichnet worden ist. Das füllt angeblich ein ganzes Zimmer in seinem Haus. Wahr oder falsch?«
»Das sagt jedenfalls die Familienlegende«, murmelte Alexandra. »Er ist ein braver, herrischer Alter, nur hat er in zweiter Ehe eine dumme Gans geheiratet. Diese dumme Gans ist jünger als er, sie macht so ziemlich, was sie will, nur nicht beim Thema Sophia. Das ist heilig, und da darf sie ihre Nase nicht reinstecken.«
»Der Sohn der Frau ist ein bißchen seltsam.«
»Aha!« sagte Marc.
»Freu dich nicht zu früh«, erwiderte Vandoosler. »Seltsam im Sinne von schlaff, unentschlossen, ein Voyeur, der im Alter von über Vierzig vom Geld seiner Mutter lebt, zwei linke Hände hat und ab und zu ein paar kleine Dinger dreht. Dabei ist er nicht sehr geschickt, wird geschnappt, wieder freigelassen, kurz: eher erbärmlich als suspekt. Sophia hat mehrere Statistenrollen für ihn gefunden, aber selbst in den stummen Rollen war er nie besonders gut und hatte sie bald satt.«
Gedankenverloren wischte Alexandra mit dem weißen Taschentuch, das ihr Lucien geliehen hatte, über den Tisch. Lucien hatte Angst um sein Taschentuch. Mathias stand auf, um zu seiner Abendschicht ins Tonneau zu gehen. Er sagte, er würde Cyrille in der Küche zu essen geben und sich später für zwei Minuten ausklinken, um ihn im Gartenhaus schlafen zu legen. Alexandra lächelte ihm zu.
Mathias ging in seine Wohnung hinauf, um sich umzuziehen. Juliette hatte verlangt, daß er unter seiner Kellnerkleidung künftig etwas anhaben solle. Das war hart für Mathias. Er hatte das Gefühl, unter drei Schichten Kleidung zu ersticken. Aber er verstand Juliettes Auffassung. Sie hatte ihn auch gebeten, sich nicht mehr halb in der Küche und halb im Restaurant umzuziehen, wenn die Gäste gegangen waren, weil »man ihn sehen könnte«. In diesem Punkt verstand Mathias Juliettes Auffassung jedoch nicht mehr, es war ihm nicht ganz klar, was daran unangenehm sein könnte, aber er wollte sie nicht verärgern. Künftig würde er sich also in seinem Zimmer umziehen, was ihn dazu zwang, vollständig angezogen auf die Straße zu gehen, mit Unterhose, Strümpfen, Schuhen, schwarzer Hose, Hemd, Fliege, Weste und Jacke, und er war ziemlich unglücklich. Aber die Arbeit war gut. Es war die Sorte Arbeit, die es einem ermöglicht, nebenbei zu denken. Und an manchen Abenden, an denen nicht viel los war, gab Juliette ihm früher frei. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, die ganze Nacht dort zu bleiben, allein mit ihr,
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