Die schöne Diva von Saint-Jacques
allzufrüh gefunden wird – auf diese Weise umgehen Sie die Frage nach dem Todesdatum und nach einem präzisen Alibi –, und kehren morgens nach Lyon zurück. Tage vergehen, nichts in den Zeitungen. Das kommt Ihnen gelegen. Schließlich aber machen Sie sich Sorgen. Die Ecke war vielleicht zu abgelegen. Wenn die Leiche nicht gefunden wird, gibt es kein Erbe. Es wird Zeit, sich an Ort und Stelle zu begeben. Sie verkaufen Ihr Auto, achten sorgfältig darauf, daß klar wird, daß Sie mit der Karre nie die weite Strecke bis nach Paris fahren würden, und kommen mit dem Zug. Sie fallen auf, weil Sie stumpfsinnig mit Ihrem Kind im Regen sitzen, anstatt auf die Idee zu kommen, im nächstbesten Café Schutz zu suchen. Es gibt für Sie nicht den geringsten Grund, an ein freiwilliges Verschwinden von Sophia zu glauben. Sie protestieren also, und die Ermittlung kommt wieder in Gang. Mittwoch abend leihen sie sich das Auto Ihrer Tante, fahren in der Nacht weg, um die Leiche einzuladen, sorgen peinlichst dafür, daß keinerlei Spuren im Gepäckraum zurückbleiben, eine unangenehme Aufgabe, Plastikfolien, Isolierstoff und andere erbärmliche technische Details, und packen sie in ein verlassenes Auto in einer Gasse der Banlieue. Dann legen Sie Feuer, um jede Spur von Transport, Manipulation und Plastiktüten zu beseitigen. Sie wissen, daß der steinerne Talisman von Tante Sophia das Feuer überstehen wird. Er hat ja auch den Vulkan überstanden, der ihn ausgespuckt hat... Die Arbeit ist vollendet, und die Leiche wird identifiziert. Erst am nächsten Tag benutzen Sie offiziell das Auto, das Ihr Onkel Ihnen geliehen hat. Um ziellos durch die Nacht zu fahren, sagen Sie. Oder vielleicht, um die Nacht vergessen zu machen, in der Sie mit einem ganz präzisen Ziel gefahren sind, für den Fall, daß jemand Sie gesehen haben sollte. Noch ein Detail: Suchen Sie nicht nach dem Auto Ihrer Tante, es ist seit gestern morgen zur Untersuchung im Labor.«
»Stellen Sie sich vor, das weiß ich«, unterbrach ihn Alexandra.
»Untersuchung von Kofferraum und Sitzen...«, fuhr Vandoosler fort, »von diesen gründlichen Analysen haben Sie sicher schon gehört. Sie bekommen das Auto zurück, sobald das getan ist. Das ist alles«, schloß er und klopfte der jungen Frau auf die Schulter.
Alexandra saß starr da und hatte den leeren Blick von Menschen, die dabei sind, das Ausmaß eines Desasters zu ermessen. Marc fragte sich, ob er dieses Arschloch von Paten nicht einfach rausschmeißen sollte, ihn an den Schultern seines tadellosen grauen Jacketts packen, ihm seine schöne Fresse polieren und ihn durch das Rundbogenfenster werfen sollte. Vandoosler hob den Blick und sah ihn an.
»Ich weiß, woran du denkst, Marc. Das würde dich erleichtern. Aber halte dich zurück und erspar es mir. Ich kann noch nützlich sein, was auch passieren und was immer man ihr vorwerfen mag.«
Marc dachte an den Mörder, den Armand Vandoosler unter Mißachtung jeglicher Gerechtigkeit hatte laufen lassen. Er versuchte, nicht durchzudrehen, aber die Ausführungen, die der Pate gerade gemacht hatte, waren stimmig. Ziemlich stimmig sogar. Plötzlich hörte er wieder Cyrilles helle Stimme am Donnerstag abend, hörte, wie er sagte, er wolle mit ihnen essen, er hätte genug vom Autofahren... War Alexandra in der Nacht zuvor auch gefahren? In der Nacht, als sie die Leiche geholt hatte? Nein. Grauenhaft. Der Kleine hatte sicher an andere Reisen gedacht. Alexandra fuhr seit elf Monaten nachts herum.
Marc sah die anderen an. Mathias zermalmte mit gesenktem Kopf eine Scheibe Brot. Lucien staubte mit dem schmutzigen Geschirrtuch ein Regal ab. Er wartete auf Alexandras Reaktion, wartete, daß sie sich erklärte, daß sie losschrie.
»Das ist in sich stimmig«, sagte sie nur.
»Das ist in sich stimmig«, bestätigte Vandoosler.
»Du bist bescheuert, sag was anderes«, flehte Marc.
»Sie ist nicht bescheuert«, sagte Vandoosler. »Sie ist sehr intelligent.«
»Und die anderen?« fragte Marc. »Sie ist doch nicht die einzige, die von Sophias Geld profitiert. Da gibt es noch ihre Mutter...«
Alexandra knüllte das Taschentuch in ihrer Faust zusammen.
»Ihre Mutter ist aus dem Spiel«, bemerkte Vandoosler. »Sie hat Lyon nicht verlassen. Sie war bis einschließlich Samstag jeden Tag im Büro. Sie hat eine Zweidrittelstelle und holt Cyrille jeden Abend ab. Unanfechtbar. Das ist bereits überprüft.«
»Danke«, flüsterte Alexandra.
»Dann vielleicht Pierre Relivaux?« fragte Marc.
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