Die schöne Diva von Saint-Jacques
aber da er wenig redete, war die Chance nicht groß, daß sie von selbst drauf kam. Also gab sie ihm früher frei. Während er seine abscheuliche Weste zuknöpfte, dachte Mathias an Alexandra und an die Menge Brotscheiben, die er hatte abschneiden müssen, um die Situation erträglicher zu machen. Der alte Vandoosler übertrieb wirklich. Es war jedenfalls unglaublich, wie viele Scheiben Brot Lucien verdrücken konnte.
Nachdem Mathias gegangen war, schwiegen alle. So war das häufig mit Mathias, dachte Marc verschwommen. Wenn Mathias da war, dann redete er kaum, und es war einem völlig egal. Aber wenn er dann nicht mehr da war, hatte man den Eindruck, als ob die steinerne Brücke, auf die man sich stützte, plötzlich verschwunden wäre und man ein neues Gleichgewicht suchen müsse. Er bekam eine leicht Gänsehaut und schüttelte sich.
»Soldat, du schläfst ein«, bemerkte Lucien.
»Nicht im geringsten«, erwiderte Marc. »Ich bleibe sitzen und schlendere trotzdem umher. Das ist eine Frage der Tektonik, das kannst du nicht verstehen.«
Vandoosler erhob sich und forderte Alexandra auf, ihn anzusehen.
»Alles ist in sich stimmig«, wiederholte Alexandra. »Der alte Simeonidis hat Sophia nicht umgebracht, weil er sie liebte. Sein Stiefsohn hat Sophia nicht umgebracht, weil er ein Schlappschwanz ist. Seine Mutter nicht, weil sie eine dumme Kuh ist. Mama auch nicht, weil es Mama ist und weil sie sich in Lyon nicht von der Stelle gerührt hat. Bleibe also nur noch ich: Ich habe mich von der Stelle gerührt, ich habe meine Mutter angelogen, ich habe mein Auto verkauft, ich habe Tante Sophia seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, ich bin verbittert, ich habe durch meine Ankunft die Ermittlungen ausgelöst, ich habe keine Arbeit mehr, ich habe das Auto von meiner Tante genommen, ich fahre ohne erklärten Grund in der Nacht umher. Jetzt bin ich reif. Ich saß ja sowieso schon in der Scheiße.«
»Wir auch«, sagte Marc. »Aber es gibt einen Unterschied zwischen in der Scheiße sitzen und reif sein. In dem einen Fall rutscht man aus, im anderen ist man kurz vor dem Verfaulen. Das ist ein großer Unterschied.«
»Laß deine Allegorien«, sagte Vandoosler. »Das kann sie jetzt nicht gebrauchen.«
»Ab und zu eine kleine Allegorie hat noch niemandem geschadet«, entgegnete Marc.
»Was ich Alexandra gesagt habe, ist im Augenblick nützlicher. Sie ist jetzt bereit. Alle Fehler, die sie heute abend begangen hat – Kopflosigkeit, Tränen, Wut, Ins-Wort-Fallen, zwei Mal ›Scheiße‹ sagen, Schreie, Fassungslosigkeit und Niederlage –, wird sie am Montag nicht noch einmal begehen. Morgen wird sie schlafen, lesen, mit dem Kleinen im Park oder an den Seine-Quais spazierengehen. Leguennec wird sie sicherlich beschatten lassen. Das ist vorgesehen. Sie braucht es nicht einmal zu merken. Montag fährt sie dann den Kleinen in die Schule und begibt sich zum Kommissariat. Sie weiß, worauf sie sich gefaßt machen kann. Sie wird ohne großen Wirbel ihre Wahrheit sagen, und das ist das Beste, was man tun kann, um einen Bullen erst mal zu bremsen.«
»Sie wird die Wahrheit sagen, aber Leguennec wird ihr nicht glauben«, wandte Marc ein.
»Ich habe nicht gesagt die Wahrheit. Ich habe gesagt ihre Wahrheit.«
»Also denkst du, daß sie schuldig ist?« fragte Marc und begann sich erneut aufzuregen.
Vandoosler hob seine Hände und ließ sie wieder auf seine Schenkel fallen.
»Marc, es braucht Zeit, bis die und ihre wieder übereinstimmen. Etwas Zeit. Das ist alles, was wir brauchen. Und genau die versuche ich zu gewinnen. Leguennec ist ein guter Bulle, aber er tendiert dazu, den Wal zu schnell packen zu wollen. Er ist ein Harpunier, die muß es auch geben. Ich lasse dem Wal lieber erst mal Raum, laß die Leine schießen, schütte Wasser drauf, wenn es zu heiß wird, finde raus, wo er wieder hochkommt, laß ihn von neuem tauchen, und so weiter. Etwas Zeit, etwas Zeit...«
»Was erwarten Sie sich von der Zeit?« fragte Alexandra.
»Reaktionen«, erwiderte Vandoosler. »Nach einem Mord bleibt nichts starr. Ich warte auf die Reaktionen. Und wenn es nur sehr kleine sind. Aber sie kommen. Man muß nur aufmerksam sein.«
»Und dafür bleibst du da oben in deinem Dachstuhl?« fragte Marc »Ohne dich zu rühren? Ohne zu suchen? Ohne jede Bewegung? Glaubst du, die Reaktionen werden dir vor die Füße fallen wie Taubendreck? Weißt du, wieviel Taubenkacke ich in den dreiundzwanzig Jahren, die ich in Paris lebe, abgekriegt habe? Weißt du,
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