Die schöne Diva von Saint-Jacques
wieder auftaucht. Vielleicht hat er die Person, die ich suche, empfangen, ohne sich der Bedeutung des Besuchs bewußt zu sein. Ich gebe Ihnen meine Adresse. Ich bin in einem kleinen Hotel im 19. Arrondissement abgestiegen, im Hotel du Danube, Rue de la Prevoyance. Als Kind habe ich da gewohnt. Zögern Sie nicht, mich anzurufen, auch nachts, denn ich kann jederzeit nach Genf zurückbeordert werden. Ich arbeite bei der europäischen Mission. Ich schreibe Ihnen den Namen des Hotels, die Straße und die Telefonnummer auf. Ich wohne in Zimmer 32.«
Marc reichte ihm seine Karte, und Dompierre notierte die Angaben. Marc erhob sich und klemmte die Karte unter das Fünf-Francs-Stück an dem Balken. Dompierre sah ihm zu. Zum ersten Mal lächelte er, und das ließ sein Gesicht fast charmant aussehen.
»Ist das hier die ›Pequod‹?«
»Nein«, erwiderte Marc ebenfalls lächelnd. »Das ist das Forschungsdeck. Alle Zeitalter, alle Menschen, alle Räume. Von 500 000 vor Christus bis 1918, von Afrika bis Asien, von Europa bis zur Antarktis.«
»›Ahab wußte es besser‹«, zitierte Dompierre. »›Er kannte das Spiel der Strömungen und Gezeiten, die Bahnen, die die Nahrung des Pottwals treibt, wie auch die Monate, da der Wal nach alter Erfahrung jährlich in den verschiedenen Breiten zu jagen ist, und konnte sich ziemlich genau ausrechnen, wann es an der Zeit war, sein Opfer auf diesem oder jenem Jagdgrund zu treffen.‹«
»Kennen Sie Moby Dick auswendig?« fragte Marc ihn verblüfft.
»Nur diesen einen Satz, weil er mir häufig von Nutzen war.«
Dompierre schüttelte Marc und Mathias lebhaft die Hände. Er warf einen letzten Blick auf seine Karte, die an den Balken geklemmt war, so als ob er sich vergewissern wollte, daß er auch nichts vergessen hatte, nahm seine Tasche und ging. Marc und Mathias standen jeder in einem Rundbogenfenster und sahen ihm nach, wie er sich Richtung Tor entfernte.
»Irritierend«, sagte Marc.
»Sehr«, erwiderte Mathias.
Sobald man einmal in einem der großen Fenster stand, fiel es schwer, sich zu einer Bewegung aufzuraffen. Die Junisonne schien noch nicht allzu stark auf den verwilderten Garten. Das Gras wuchs schnell. Marc und Mathias blieben eine ganze Weile in ihren Fenstern stehen, ohne etwas zu sagen. Marc redete als erster.
»Du bist spät dran«, sagte er. »Juliette wird sich fragen, wo du bleibst.«
Mathias fuhr auf, lief in seine Etage, um seine Kellnerkleidung anzuziehen, und Marc sah, wie er, in seine schwarze Weste gezwängt, aus dem Haus stürzte. Es war das erste Mal, daß Marc Mathias rennen sah. Und er rannte gut. Ein glänzender Jäger.
25
Alexandra tat nichts. Das heißt nichts Nützliches, nichts Lohnendes. Sie hatte sich an einen kleinen Tisch gesetzt, den Kopf auf die Fäuste gestützt. Sie dachte an die Tränen, an die Tränen, die niemand sieht, von denen niemand weiß, die Tränen, die niemandem nützen und die trotzdem kommen. Alexandra stützte ihren Kopf in die Hände und preßte die Zähne zusammen. Natürlich nützte das nichts. Sie richtete sich auf. »Die Griechen sind frei, die Griechen sind stolz«, hatte ihre Großmutter immer gesagt. Die sagte wirklich Sachen, die alte Andromache.
Guillaume hatte tausend Jahre mit ihr zusammenleben wollen. Wenn man richtig nachrechnete, waren es genau fünf gewesen. »Die Griechen glauben an ein gegebenes Wort«, hatte die Großmutter gesagt. Vielleicht, dachte Alexandra, aber dann sind die Griechen Trottel. Denn schließlich hatte sie gehen müssen, halb erhobenen Hauptes und halb aufrechten Ganges, sie hatte Landschaften, Klänge, Namen und ein Gesicht aufgeben müssen. Hatte mit Cyrille auf ausgefahrenen Wegen laufen müssen und dabei versucht, nicht in die schlammigen Wagenspuren der verlorenen Illusionen zu stolpern. Alexandra streckte ihre Arme aus. Sie hatte es satt. Satt wie der Sattel. Wie ging das noch mal? »Ich hab’s satt, Satteldecke, Deckenbild, Bilderbuch, Buchenblatt...« Es ging glatt bis »Feuerland, Landungssteg, Stegreif, Reifezeit, Zeitvertreib«, aber dann wußte sie nicht weiter.
Alexandra warf einen Blick auf den Wecker. Es war an der Zeit, Cyrille abzuholen. Juliette hatte ihr angeboten, gegen eine feste Summe den Kleinen jeden Tag nach der Schule im Tonneau zu verpflegen. Ein Glücksfall, so Leute wie Juliette oder die Evangelisten kennengelernt zu haben. Sie hatte das kleine Haus in ihrer Nähe, und das war erholsam. Vielleicht, weil sie alle den Eindruck machten, als
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