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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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exakten Wissenschaften und suchte Gott nur auf diesem Wege. Während er auf dem Abtritt saß, stellte er bestimmte Forderungen an Gott, er maßte sich an, seinem Schöpfer gleich zu sein, und bemühte sich außerdem, einen exakten Beweis für seine Existenz zu finden.
    In der Natur geht nichts verloren, dachte er, in der Natur dauert alles ewig. Doch die einzelnen Elemente der Natur sind beileibe nicht ewig, wie mich die Beobachtung lehrt, aber auch mein eigenes Schicksal. Ich rieche die Exkremente, die ein Resultat des Stoffwechsels sind, sie bilden einen Teil des Lebens und leben selbst, weil sie aus unzähligen Zellen bestehen, die zu Millionen sterben und zu Millionen geboren werden, damit das Leben fortdauert. Die Natur dauert fort, aber das Leben hat sein Ende, das Einzelleben hat sein Ende, doch der Prozeß des Lebens, sein Fortdauern, ist ewig und unendlich. Was steht dahinter? Wenn ich annehme, daß die Materie ewig und unzerstörbar ist, sich zwar umwandelt, aber ständig fortdauert, dann kann ich ebensogut annehmen, daß in ihr eine Kraft steckt, eine unzerstörbare Energie, also etwas, das in der Materie ungreifbar und unberechenbar ist, ihr aber den Rhythmus verleiht und die Fortdauer gewährleistet. Dieses Etwas gibt es zweifellos, und bestimmte Leute haben dieses Etwas Gott genannt! In solchem Sinne, als materielles Gebilde bin ich ein Teilchen dieses Etwas, folglich ein Teilchen Gottes. Nun gut! Aber ist ein Blatt auch ein Teilchen von Ihm? Wahrscheinlich ist es das, nur weiß es das nicht. Ich bin höher organisierte Materie und weiß es. Nur deshalb weiß ich, daß ich vollkommener bin, aber sonst nichts. Wenn Gott noch zu veranlassen geruhte, daß mir nicht so kalt ist, könnte ich in meinen Überlegungen einen Schritt weiter gehen und mich mit der Frage meines Bewußtseins sowie meiner moralischen Normen beschäftigen.
      In diesem Augenblick ging jemand über den Hof, und Henryks Gedanken gerieten in Panik. Dieser Mensch kam nicht nur näher, er hatte sogar die deutliche Absicht, den Abtritt zu benutzen, denn die Schritte hielten plötzlich an, und eine Hand rüttelte an der von innen verriegelten Tür.
      »Verdammt nochmal!« sagte eine heisere Stimme. »Ist da wer?«
      Henryk Fichtelbaum zögerte keinen Augenblick, weil er wußte, daß kein Geist den Abtritt von innen verschlossen haben konnte, und antwortete leise: »Ich komme gleich raus! Ein Momentchen noch!«
    »Ich warte«, entgegnete die Stimme jenseits der Tür.
      Eine Zeitlang herrschte Stille. Doch Gott ist barmherzig denen gegenüber, die Ihn suchen, sogar wenn sie Ihn unter so ungewöhnlichen Umständen, inmitten von Schmutz und Schimpf der Welt suchen.
      Die Stimme jenseits der Tür erklang von neuem: »Na, wie steht's? Mich drängt's!«
    »Gleich«, antwortete Henryk.
      Doch der Mann draußen hielt es nicht aus. Henryk vernahm ein Geräusch, dann die Töne einer Entleerung, zum Schluß ein Husten, sich entfernende Schritte und die Worte des Mannes: »Schon gut, machen Sie weiter!«
    In der Ferne schlug eine Tür zu, dann setzte Stille ein.
      »Wie konnte ich an Dich nicht glauben, guter Gott!« flüsterte Henryk Fichtelbaum und schlief fast sofort ein, erschöpft von Angst, Hunger und allem Leiden der Welt, das sich rund um ihn auf dem Abtritt angesammelt hatte.
      Ein Sonnenstrahl, der durch einen Spalt in den dunklen Raum fiel, weckte ihn. Es war kalt. Auf der Brzeska-Straße brach der Morgen an. Henryk erhob sich, öffnete vorsichtig die Tür und trat auf den Hof. Der war leer. Das Pflaster glänzte vor Feuchtigkeit. Der blasse Himmel zeigte mehr Grau als Blau. Ein leichter Wind streifte Henryks Haar, er brachte Frühlingsgeruch mit. Noch lebe ich, dachte Henryk. Er atmete tief durch, spürte die stechenden, feinen Nadeln der Kälte in seiner Kehle und bebte. Doch der nächtliche Schlaf hatte ihn dermaßen gekräftigt, daß er den Hunger nicht so stark spürte wie am Abend zuvor. Das sollte erst später kommen.
    Er blickte sich um. Der von allen Seiten umbaute Hof bildete ein unregelmäßiges, zwischen die Hinterhäuser geklemmtes Rechteck. Von der Straße trennte ihn ein halb verfallenes, feuchtes und schmutziges Haus. Seine verstaubten Fenster, hier und da mit Gardinen, Pelargonientöpfen oder kümmerlichen Kakteen geschmückt, die in den Augen der Bewohner als besonders schöne, nämlich exotische Zier galten, schauten direkt in die Fenster des genauso verfallenen Hinterhauses, die genauso mit Gardinen,

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