Die schoene Frau Seidenman
Pelargonien und Kakteen geschmückt waren. Auf der dritten Seite schloß eine blinde Mauer den Hof ab. An ihr lehnten halb zerfallene Schuppen, in denen Stallungen untergebracht waren, wo aber in den nächsten Jahren heimliche Werkstätten prosperieren sollten, Fabrikationsstätten für Kämme, Nägel, Fensterrahmen-Schrauben, scheinbar armselige Werkstätten, bevölkert von Schlaumeiern mit goldenen Händen und Fuchsgesichtern, die sich in dieser ruinierten Stadt an der Oberfläche halten wollten. Was ihnen eine Zeitlang auch gelang, bis die eiserne Hand des Systems, die die letzten Reste menschlicher Findigkeit aus Polen, Warschau und der Brzeska-Straße fegte, sie mit ihrem schrecklichen Druck erstickt hatte. Gegenüber der blinden Mauer und den windschiefen Schuppen erhob sich ein Zaun, früher sicher die Grundstücksgrenze, gekennzeichnet durch Bäume, von denen nur noch die nicht gerodeten Stümpfe übrig waren und kaum noch lebende, vertrocknete Akaziensträucher, die gerade aller Welt zum Trotz junge Triebe aussandten.
Ich bin eingeschlossen, dachte Henryk. Ich bin gefangen, dachte er. Doch im Grunde wußte er, daß er auch außerhalb dieses Hinterhofes für immer eingeschlossen und gefangen bleiben würde. Der eng bebaute Raum kam ihm nicht bedrohlicher vor als der Wald, in dem er sich über Winter versteckt hatte, oder erst recht die Straßen des durch Mauern vom Rest der Welt abgetrennten Ghettos. Henryk Fichtelbaum atmete wieder in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein, den Geruch von feuchtem Stroh, Abfällen und Pferde-Urin. Es ging ihm nicht schlecht auf diesem Hof, weil er keine Menschen, Gesichter oder Blicke sah, doch spürte er ihre Nähe. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil jeder Passant ihn bedrohte, und gleichzeitig stellte ihre Nähe eine gewisse Hoffnung dar.
Er wußte, sein Leben würde nicht mehr lange dauern, denn er war ein vernünftiger junger Mann und gab sich keinen Illusionen hin. Er wußte, daß er von Menschenhand sterben, daß man ihn totschlagen würde. Doch das Gesicht des anderen Menschen, dessen Stimme, dessen Blick kamen ihm nicht schrecklich vor. Am schwersten stirbt man in Einsamkeit, Dunkelheit und Stille. Der Tod unter anderen, im Lärm menschlicher Stimmen, im Gedränge der Blicke und Gesten wirkt weniger grausam. Henryk Fichtelbaum dachte, der Tod eines Soldaten beim Bajonettangriff sei wohl weniger entsetzlich als das einsame Sterben des Verurteilten, selbst wenn es ein zum Tod im Bett Verurteilter sein sollte.
Warum soll ich sterben, dachte er plötzlich, wo ich doch noch keine achtzehn Jahre alt bin? Ist das gerecht? Ist es meine Schuld, daß ich als Jude geboren wurde, daß meine Vorfahren Juden waren, daß ich jüdischen Lenden entstamme? Mit welchem Recht bin ich erst zum Juden gemacht worden, um anschließend für mein Judentum zum Tode verurteilt zu werden?
Henryk Fichtelbaum war nicht besonders originell, während er im Schatten des Abtritts, aus dem er auf den Hof gegangen war, an der rauhen Mauer lehnte, auch nicht besonders originell, als er sich diese Fragen stellte, deren Antwort er vergeblich suchte. Letzten Endes könnte es ja sein, daß sich zur gleichen Zeit, damals im Frühjahr 1943, die Hälfte der Menschheit zusammen mit Henryk Fichtelbaum diese Fragen stellte und ebenfalls keine Antwort fand. Später, als Henryks Knochen im Feuer des brennenden Ghettos bleichten und anschließend im Regen unter der Asche von Warschau schwarz wurden, als sie sich schließlich in den Fundamenten der neuen, auf den Kriegstrümmern errichteten Häuser befanden, später stellten sich verschiedene Menschen gleichfalls die Frage, was das eigentlich bedeute, daß die Menschheitsgeschichte dieses auserwählte Volk ins Leben gerufen, daß Gott mit diesem Volk gesprochen und ihm seine Gesetze übergeben habe, um fast gleichzeitig, vom ersten Augenblick des Bundes an, sein geliebtes Volk den schwersten Erfahrungen und den scharfen Stichen des Schicksals auszusetzen. Sollte es auserwählt worden sein, um besonders zu leiden und auf diese Weise ein besonderes Zeugnis abzulegen?
Verschiedene Menschen dachten über dieses Dilemma nach, im Grunde vergeblich, denn es stellte sich bald heraus, daß Gottes Ratschlüsse keineswegs bekannt, geschweige denn überzeugend waren. Immerhin machte sich die Welt später über andere her und ließ die Juden in Ruhe, als wäre das Maß ihrer Leiden voll, nicht aber das Maß der Leiden anderer Menschen. Es stellte sich
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