Die schoene Frau Seidenman
sogar heraus, daß die seltsame Verbindung, die in den Augen Henryk Fichtelbaums und eines großen Teiles der Menschheit zwischen Juden und Deutschen bestand, also zwischen Heine und Goethe, Mendelssohn und Schubert, Marx und Bismarck, Einstein und Heisenberg, daß diese seltsame Verbindung nicht die in ihrer Art einzige und in ihrem doppeldeutigen Wahnwitz unübertroffene war, denn in Vietnam fielen Menschen wie Insekten unter der Wirkung eines Gases, dessen Vollkommenheit Zyklon B weit übertraf, in Indonesien wurden die Flüsse wortwörtlich rot von Menschenblut, in Biafra trockneten die Menschen vor Hunger so ein, daß die Leichen auf der Nalewki-Straße dagegen wie die Körper von Freßsäcken aussahen, und in Kambodscha wurden Pyramiden aus Menschenschädeln aufgeschüttet, die Krematorien und Gaskammern überragten.
Die Menschen, die nach Jahren auf den Knochen von Henryk Fichtelbaum wohnten, dachten recht selten an ihn, und wenn, dann mit einer gewissen Hoffart und Eitelkeit, als wären sie die größten Märtyrer unter der Sonne. Sie irrten sich doppelt. Erstens aus dem Grunde, daß Märtyrertum kein Adel ist, den man ererben kann wie Wappen oder Ländereien. Diejenigen, die auf Henryk Fichtelbaums Knochen wohnten, waren überhaupt keine Märtyrer, sie schnitten höchstens Coupons ab von andererleuts Märtyrertum, was immer töricht und unwürdig ist. Zweitens bemerkten sie nicht, daß die Welt sich weiter entwickelt und die Geschichte des Krieges mit Adolf Hitler weit hinter sich gelassen hatte.
Henryk Fichtelbaum wußte von alledem nichts, und selbst wenn Gott ihn mit prophetischer Vorausschau bedacht hätte, wäre das kein Trost gewesen, weil er, Henryk Fichtelbaum, damals, im Frühjahr 1943 sterben sollte und wußte, daß er verurteilt war. Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum die Welt so ungerecht und niederträchtig sei, doch sein suchender Gedanke ging leer aus wie die Gedanken von Millionen Menschen, die sich später, nach Henryks Tode auf demselben Pfad befinden und demselben Ziel zustreben sollten wie er.
Er aber strebte auf das Tor zu, weil es immer heller wurde, der Himmel ganz blau, die Fenster in den Hinterhäusern sich öffneten, die Droschkenpferde im Stall schnaubten und eine Frau auf den Hof gelaufen kam, eine junge, schöne, dunkelhaarige, in Rock und rosa Unterkleid, mit nackten Armen, in schief getretenen Pantoffeln an den nackten Füßen, mit einem Eimer in der Hand, zitternd vor morgendlicher Kühle; eine Frau kam also auf den Hof gelaufen, um am Brunnen Wasser zu holen, eine junge Dirne von der Brzeska-Straße, drall, glatt, fast halbnackt, sie war auf den Hof getreten, die Absätze ihrer Pantoffeln klatschten auf die Pflastersteine, der Eimer hallte, als sie ihn auf die Einfassung stellte, der schwere Pumpenschwengel quietschte, als die Frau ihn auf und nieder bewegte, auf und nieder, das Wasser schwappte silbrig in den Eimer, die große, helle Brust der Frau glitt vor, weil der Träger ihres Unterrocks sich etwas verschoben hatte, wieder schwappte das Wasser, die Frau hob den Kopf, sie trug ein heiteres, schelmisches Lächeln im Gesicht, ein Dirnenlächeln, selbstsicher, verführerisch, hurenhaft und hübsch, wieder klatschte das Wasser in den Eimer und spritzte auf die Steine ringsum, die Frau hob leicht ihren wohlgeformten Fuß, offenbar wollte sie den Pantoffel nicht naß werden lassen; und gerade da begegneten ihre großen, dunklen Augen, reingewaschen vom ruhigen Schlaf auf dem Sofa im Parterrezimmer, wo sie unter dem Heiligenbild ihre Kunden empfing, wo tagsüber die Atemzüge und das Stöhnen der verschiedenen Männer ertönte, die Schoß, Bauch und Brust dieses Mädchens preßten, und nachts nur ihr ruhiger, gleichmäßiger und sündloser Atem – gerade in diesem Augenblick, als die Frau ihren Fuß hob, um den Pantoffel nicht naß werden zu lassen, begegneten ihre Augen den Augen Henryk Fichtelbaums.
Und aus purem Irrsinn, ohne jede Begründung, vielleicht nur geleitet von der Sehnsucht nach einem anderen Menschen oder vielmehr von der Sehnsucht nach einer Frau, die er noch nie im Leben besessen, obwohl er sich das sehr gewünscht, obwohl er davon viele Male geträumt, sogar in den verschneiten Wäldern, wo er sich wie ein wildes Tier versteckt hatte, auf den Müllhaufen, wo er zwischen den Wurm-Brüdern, MikrobenBrüdern, Abfall-Brüdern gelebt hatte, geleitet also von der Sehnsucht nach einer Frau, die ihn vom Tode fernhalten oder gegen den Tod
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