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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Henryk Fichtelbaum geflüstert: »Lieber Gott, hilf mir!« Dann kletterte er hinüber, und nichts passierte ihm. Folglich vergaß er Gott.
    Einige Monate lang kam er durch mit Hilfe der bescheidenen Mittel und der eifrigen Fürsorge Pawełeks. Eines Tages indessen beging er aus übergroßer Selbstsicherheit einen Fehler, schließlich war er erst achtzehn Jahre alt, die Erfolge hatten ihm den Kopf verdreht. Er begab sich nämlich, sein Aussehen vergessend, in eine Konditorei auf der Marszałkowska-Straße. Henryk Fichtelbaum entschuldigte sich später vor sich selbst damit, daß er sein Gesicht nie unter dem Blickwinkel der Rassenmerkmale studiert habe – niemand in seinem Leben hatte ihn auf seine jüdischen Gesichtszüge als beachtenswerte Einzelheit hingewiesen. Wenn er vor dem Kriege in der Schule irgendwie auffiel, dann durch seine Vorliebe für die exakten Fächer, nicht aber durch die Form von Nase und Lippen. In der Konditorei weckte er zunächst diskretes Interesse, später Panik, schließlich die heftige Reaktion eines Mannes, der ausrief: »Ein Jude ißt Kuchen!« als ob ein Jude, der in der Konditorei auf der Marszałkowska Kuchen aß, etwas wäre wie ein Dinosaurier, eine russische Großfürstin ohne Brillantohrringe oder eben ein Jude, der im Jahre 1942 in der Konditorei auf der Marszałkowska Kuchen aß. Einige Leute verließen eilig die Konditorei, ein Kellner rief: »O Jesu! Jetzt schlagen sie uns alle tot!« und nur ein älterer Herr bewahrte die Ruhe und hielt, an die Zimmerdecke gewandt, eine kurze, inhaltsreiche Rede: »Sie werden sowieso zuerst die Juden totschlagen und dann uns, es gibt darum keinen Grund zur Panik, mag der junge Mann seinen Kuchen essen, ich bin bereit, für ihn zu zahlen, bitte verfallen Sie nicht in Erregung oder kopflose Angst, sondern wahren Sie Würde, der Krieg dauert fort, wir sind verurteilt, es sei denn, Adolf Hitler haucht unerwartet seinen Geist aus, was ich ihm im übrigen herzlich wünsche, bewahren Sie Ihre Ruhe, nichts ist passiert, hier ist Polen, immer noch ist hier Polen, bitte nehmen Sie mir diese Hoffnung nicht. Das ist alles, was ich zu diesem Vorfall zu sagen habe.«
      Doch ein anderer Herr rief zitternd und bleich: »Nicht genug, daß sie ermordet werden, treiben sie sich noch in der Stadt herum und gefährden andere, völlig Unschuldige! Ich habe diesen Juden nicht gesehen, ich habe ihn nicht gesehen…«
      Der ältere Herr zuckte mit den Schultern und fügte in bitterem Ton hinzu: »Sie sehen ihn doch, werter Herr!«
      Aber man sah ihn nicht mehr, denn Henryk Fichtelbaum flitzte aus der Konditorei und rannte davon, erschrocken wie nie zuvor, mehr sogar als an jenem Abend, da er über die Ghettomauer stieg, denn damals war er allein gewesen, und nur Gott war in der Nähe vorbeigeeilt, jetzt aber befand er sich in einer Menschenmenge, er spürte im Rücken die Blicke der Passanten, mitfühlende, erstaunte, ängstliche, unfreundliche, vielleicht sogar feindselige und einen unbeugsamen Beschluß verratende. Darum rannte er atemlos, immer weiter und weiter. Erst auf der Puławska-Straße hielt er inne, ging die Böschung zur fernen Weichsel hinunter und beschloß ganz plötzlich und sinnlos, aus der Stadt zu fliehen. Das tat er dann auch.
    Den Winter verbrachte er auf dem Lande, bei einem anständigen Bauern, der ihm ein Versteck im Wald herrichtete, ihn verpflegte, zu trinken brachte und sein Judentum verfluchte, das den Menschen soviel Scherereien, Sorgen und Beschwerden mache. Nach einiger Zeit aber kämmten die Deutschen die Gegend durch auf der Suche nach Partisanen oder nach Schnaps oder eben nach Juden, und Henryk mußte fort. Der Bauer gab ihm Brot, Speck, eine abgewetzte dunkelblaue Mütze, wie sie Skiläufer tragen, und fünfzig Złoty. Dieser Bauer überlebte den Krieg und kam nach seinem Tode bestimmt in den Himmel, obgleich die Nachbarn – recht kleingläubig – ihm die Hölle prophezeiten, weil der Bauer in die Partei eintrat.
      Henryk Fichtelbaum kehrte gegen Ende des Winters nach Warschau zurück. Er übernachtete auf Dachböden und in Treppenhäusern, in Toreinfahrten und auf Müllhaufen. Er nährte sich von dem, was er bei guten Menschen erbettelte. Er wußte bereits, daß er keinerlei Chancen hatte und binnen kurzem würde sterben müssen. Dieses Bewußtsein brachte ihn wieder Gott näher, denn da der Tod auf Henryk wartete, blieb ihm nur die Wahl zwischen Gott und dem Nichts.
      Doch er hatte eine Vorliebe für die

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