Die schoene Frau Seidenman
geht es eigentlich, Bronek?
Als er gegessen hatte, gelangte er wieder zu der Überzeugung, daß man ihn töten würde. Wenn nicht heute, dann morgen. Am Anfang war ein Totschlag, dachte er. Irrtum. Am Anfang war das Wort. Aber Gott hielt diese schreckliche Meute in der Hinterhand. Noch war die Welt nicht reif geworden für das Joch der Wörter.
Abends besuchte Bronek Blutman seine Geliebte. Er badete und zog seinen kirschroten Frottémantel über. Die Geliebte schaute ihm zu. Sie saß in einem tiefen Sessel und hatte nur ein buntes Höschen an, Seidenstrümpfe und Strumpfhalter mit hellblauem Hohlsaum. Sie saß im Sessel, ihre nackten, großen Brüste sahen aus wie Hügel und die bemalten Lippen wie eine Wunde quer durch die Mitte des Gesichts. Sie betrachtete Bronek Blutman mit halbgeschlossenen Lidern, weil sie meinte, so müsse man Bronek Blutman betrachten. Sie war eine dumme Frau, erzogen in Armut und im Kino. Ihr Vater war Platzanweiser, sie brachte ihm abends Essen in einem Töpfchen, stand dann hinter dem Vorhang an der Tür mit der Aufschrift Ausgang und schaute den Film am. Immer sah sie die Filme in perspektivischer Verkürzung. Langgezogene Gesichter und endlose Blicke. Mit solch einem leidenschaftlichen, endlosen Blick berührte sie jetzt Bronek Blutman. Sie wünschte, von ihm auf dem Sessel genommen zu werden, wie noch nie bisher. Irrtum, dachte Bronek Blutman, kein Gedanke an solche Späße. Ich gehe schlafen. Irrtum, denn sie setzte sich durch. Bronek schnaufte wie der grippekranke Rikschafahrer. Später schlief er ein. Ihm träumte, er sei alt. Irrtum. Ein Jahr später wurde er in den Ghettoruinen erschossen. Er hatte sich nicht geirrt, als er gedacht hatte, er werde sowieso getötet.
18
P rofessor Winiar, ein Mathematiker, getragen von Sympathie und Achtung mehrerer Schülergenerationen, die er fast ein halbes Jahrhundert lang mit Null und Unendlich gefüttert hatte, stand an der Haltestelle der Straßenbahn und hielt in einer Hand seinen Regenschirm, in der anderen aber die zusammengerollte Tageszeitung Nowy Kurier Warszawski , die er an diesem Tag noch nicht zu lesen geschafft hatte. Neben dem Professor wartete eine beleibte, in einen dunkelblauen Mantel mit Samtbesatz gekleidete Frau. Die Straßenbahn kam lange nicht. Die Haltestelle befand sich am Krasiński-Platz, einem einst belebten Punkt der Stadt, wo zwei Welten zusammenstießen. Professor Winiar erinnerte sich aus den vergangenen Jahren gut an diesen Platz, weil er auf der Świętojerska-Straße wohnte und sein Weg in die Innenstadt und zu dem Gymnasium, an dem er Mathematik unterrichtete, hier vorbeiführte. In früheren Zeiten hatte der Professor den Platz als angenehmen, ja sogar symbolischen Ort empfunden, denn er war ein Liberaler, Christ, Freiheitskämpfer und Philosemit. Das gab es nicht allzu häufig, es stellte in diesem Teil Europas eine ebenso edle wie besondere Mischung dar. Doch seit einiger Zeit hatte der Platz, wo Professor Winiar vergeblich auf die Straßenbahn wartete, sein Gesicht geändert und kam dem Jugenderzieher nun düster und abstoßend vor. Von der Haltestelle aus konnte der Professor wegen seiner hohen Gestalt und seinem gelenkigen Hals, auf dem sich ein kleiner, aber weiser Kopf befand, die rote, hohe Mauer sehen, die den arischen Teil der Stadt vom Ghetto trennte. Jedesmal beschämte ihn der Anblick aus unbekannten Gründen, statt ihn mit Stolz darüber zu erfüllen, daß er zur besseren Menschenrasse gehörte. Möglicherweise ergab sich das Gefühl der Bedrückung und Erniedrigung, sobald der Professor die Ghettomauer erblickte, aus der Überzeugung, daß auf der anderen Seite Schüler von ihm litten, unter ihnen der beste Mathematiker einiger Schülergenerationen namens Fichtelbaum. Zum letzten Mal hatte der Professor den Schüler Fichtelbaum vor drei Jahren gesehen, doch erinnerte er sich sehr gut an das frische Gesicht mit dem etwas kapriziösen Mund und den dunklen Augen. Professor Winiar hatte ein vorzügliches Gedächtnis, gerade für Gesichter. Die Nachnamen seiner Schüler verwechselte er oft, an die Vornamen erinnerte er sich fast nie, aber die Gesichtszüge trug er mit einer fast fotografischen Genauigkeit in sich. Auch an die Gesten seiner Schüler erinnerte er sich. Der Zögling Kryński zum Beispiel, ein Junge mit träumerischem Blick und mittelmäßiger mathematischer Begabung, pflegte auf sehr charakteristische Weise die Hand zu heben, um sich zu melden, er drückte den Ellbogen an die
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