Die schoene Frau Seidenman
Brust und streckte zwei Finger in die Höhe, den Zeige- und den Mittelfinger, völlig im Einklang mit dem polnischen Militärgruß. Dieser Schüler hatte, so schien es, familiäre Bindungen an die Armee, was Professor Winiar nicht billigte, da er nach dem Großen Kriege zu allem Übel auch noch Pazifist geworden war.
Der Mathematiker litt. Als der jüdische Wohnbezirk geschaffen wurde, hatte er seine Wohnung verlassen und war zur Südseite des Krasiński-Platzes gezogen, in ein Haus auf der Długa-Straße. Das war ein Fehler gewesen, der sich aus der mathematischen Logik des Professors ergab. Er wollte in seiner alten Gegend bleiben und von fern sein früheres Haus im Bereich des Ghettos sehen, weil er damit rechnete, daß der Krieg nicht lange dauern würde. Vielleicht wäre eine andere, weniger rationale, aber prophetische Haltung besser gewesen. Professor Winiars Nachbarn zogen, als sie ihre Wohnungen auf der Świętojerska-Straße verlassen mußten, an die fernen Ränder der Stadt. Das war ein wenig wie das Abbrechen der Brücken hinter sich, und Professor Winiar hielt das für kleinmütig, vielleicht sogar unwürdig. Folglich blieb er. Daraus ergab sich nun sein Leiden. Tag und Nacht war er Zeuge des Triumphs des Bösen. Fast direkt hinter seiner Hauswand wurden seine Nachbarn gemordet. Ihn tröstete der Gedanke, Gott und Polen würden diese Verbrechen genauestens festhalten und am Tage des Gerichts die Urteile verkünden. Gott zu einem etwas späteren Termin, in der Ewigkeit nämlich, Polen aber nach dem Standrecht. Dennoch litt er weiter, weil er wußte, daß auch das strengste Urteil seinen ermordeten Nachbarn nicht das Leben wiedergeben und die vergossenen jüdischen Tränen nicht trocknen würde.
Die Straßenbahn kam nicht. Ein kühles Windchen wehte. Die Frau neben dem Professor schloß ihren Mantelkragen unter dem Kinn. Fern hinter der Ghettomauer ertönten Schüsse aus Handfeuerwaffen. Professor Winiar hatte sich an so etwas gewöhnt. Doch plötzlich drang zum Erstaunen des Erziehers vieler Schülergenerationen ein anderer, äußerst sonderbarer Ton an sein Ohr. Die ersten Takte der Melodie einer großen Drehorgel erklangen. Man vernahm Tschinellen und Schlagzeug und Trommeln und womöglich auch Geigen, Baßgeigen, Flöten, was Professor Winiar nicht beurteilen konnte, weil sein Verständnis für Musik gering und sein Gehör recht stumpf war. Doch gab es keinen Zweifel, auf dem Platz ertönte fröhliche Musik, und der Professor erinnerte sich an das Karussell, das man vor kurzem hier aufgestellt hatte. Ganz dicht an der Ghettomauer, bunt und fröhlich wie alle Karussells der Welt. Es gab dort Schimmel mit roten Nüstern, venezianische Gondeln, Kutschen, Schlitten, sogar eine hochherrschaftliche Karosse. Alles drehte sich im Takt der Musik, der Mechanismus des Karussells stöhnte, die Pferde galoppierten, die Schlitten glitten, die Kutschen schwankten, und alles zusammen rauschte, rasselte, klimperte und drehte sich im Kreise unter Lachen, Kreischen ängstlicher Mädchen, Ausrufen junger Männer, fröhlichen Neckereien, Kichern und Zärtlichkeiten. Professor Winiar warf einen Blick auf das Karussell, er sah den rasenden bunten Reigen, die lachenden Gesichter, die im Winde wehenden Mädchenhaare, die weißen Flecken nackter Waden und Schenkel, die Schöpfe, Hemden, Röcke, Schäfte, Höschen, Krawatten, Fähnchen, Pferdemähnen, Lampions, Bänke, Ketten, Schwäne, Schmetterlinge. Der Professor sah den hübschen, musikalischen, mechanischen Pans-Reigen und hörte das Dudeln der Drehorgel, das Knattern der Maschinengewehre, das Schreien der Juden und das Getöse des Karussell-Mechanismus.
Die Frau im hoch unter dem Kinn geschlossenen Mantel sagte: »Ich fahre lieber mit der Straßenbahn.«
Sie blickten sich in die Augen. Hätte sie diese Worte früher gesagt, so hätte der Professor sie vielleicht als letzten, rettenden Strohhalm, als Rettungsleine ergriffen und sich damit ans Ufer der Hoffnung gezogen. Aber sie wurden zu spät ausgesprochen. Professor Winiar, der Mathematiker, ließ die Zeitung fallen, drehte eine Pirouette, als befände er sich selbst auf dem Karussell, und sank leblos auf den Bürgersteig.
Es ist unbekannt, welche Gedanken ihn bei seinem letzten Fall bewegten. Die Frau im hoch unter dem Kinn geschlossenen Mantel informierte später die Verwandten des Professors, er habe, schon im Liegen, mit geschlossenen Augen, den Regenschirm immer noch krampfhaft an sich drückend, mit
Weitere Kostenlose Bücher