Die schöne Kunst des Mordens
ehe ich dir einen Stuhl über den Schädel ziehe.«
»Ich sage nur«, sagte er, was zumindest stimmte und bis hierhin einfach zu verstehen war, »der Rechtsmediziner kriegt diese vier Leichen und behauptet, man hätte sie von dort geklaut. Und nun sind sie wieder da.«
Die Welt schien kurz aus dem Gleichgewicht zu geraten, und dichter grauer Nebel, der das Atmen erschwerte, legte sich über alles. »Die Leichen sind aus dem Leichenschauhaus gestohlen worden?«
»Ja.«
»Was bedeutet, dass sie schon tot waren, als jemand sie stahl und das ganze unheimliche Zeug mit ihnen veranstaltet hat?«
Er nickte. »Das ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe. Ich meine, da stiehlt jemand Leichen aus dem Leichenschauhaus? Und spielt dann damit rum?«
»Aber wer immer es war, er hat sie nicht umgebracht?«
»Nein, es waren Unfalltote, die zufällig auf den Seziertischen herumlagen!«
Zufällig ist so ein schreckliches Wort. Es steht für alles, wogegen ich mein Leben lang gekämpft habe: Es bedeutet wahllos, unsauber, ungeplant – und deshalb gefährlich. Wegen dieses Wortes wird man mich eines Tages erwischen, denn trotz aller Vorsicht der Welt kann ein Versehen stets passieren, und in dieser Welt stümperhafter, chaotischer Zufälle tut es das auch.
Wie jetzt. Ich hatte letzte Nacht ein halbes Dutzend Müllsäcke mit jemandem gefüllt, der mehr oder weniger zufällig unschuldig war.
»Dann handelt es sich gar nicht um Mord«, stellte ich fest.
Er zuckte die Achseln. »Es ist trotzdem ein Verbrechen. Leichenraub, Störung der Totenruhe, irgend so was. Gefährdung der öffentlichen Gesundheit? Ich meine, es muss doch illegal sein.«
»Das ist Bei-Rot-über-die-Straße-Gehen auch«, sagte ich.
»Nicht in New York. Die tun das andauernd.«
Mehr über die Verkehrsregeln von New York zu lernen trug absolut nichts zur Hebung meiner Stimmung bei. Je länger ich nachdachte, desto offensichtlicher wurde, dass ich gefährlich nahe daran war, in dieser Angelegenheit menschliche Gefühle zu entwickeln, und während der Tag voranschritt, dachte ich länger und länger darüber nach. Ich spürte ein befremdliches Würgen im Hals und eine verschwommene, ziellose Furcht, die sich nicht abschütteln ließ, und so stellte sich mir die Frage: War es Schuld, die sich so anfühlte? Ich meine, mal angenommen, ich besäße ein Gewissen, wäre es jetzt belastet? Das Ganze war äußerst beunruhigend und gefiel mir ganz und gar nicht.
Und zudem war es so sinnlos – Doncevic hatte immerhin ein Messer in Deborah hinterlassen, und dass sie nicht tot war, lag nicht an mangelndem Willen seinerseits. Er hatte etwas sehr Ungezogenes getan, selbst wenn er es nicht zu Ende gebracht hatte.
Warum also sollte ich irgendetwas »fühlen«? Die Feststellung »Ich habe etwas getan, weswegen ich mich schlecht fühle« mag ja für ein menschliches Wesen schön und gut sein, doch wie kam der kalte und leere Dexter dazu, Derartiges zu empfinden? Selbst wenn ich etwas fühle, stehen die Chancen gut, dass die meisten von uns es letztendlich als böse ansehen würden. Diese Gesellschaft sieht Emotionen wie »Verlangen zu töten« oder »Freude am Zerstückeln« nicht eben mit Wohlgefallen, und in meinem Fall sind das doch die wahrscheinlichsten Kandidaten.
Nein, es gab nichts zu bedauern – es handelte sich schließlich nur um eine kurze, versehentliche und impulsive winzig kleine Zerstückelung. Die Anwendung von Dexters geschmeidiger und kühler Logik endete stets mit demselben Resultat, wie oft ich sie auch anwandte: Doncevic war kein großer Verlust, und er hatte auf jeden Fall versucht, Deborah umzubringen. Sollte ich hoffen müssen, dass sie starb, nur damit es mir besser ging?
Und doch störte es mich und machte mir nicht nur den ganzen Vormittag über zu schaffen, sondern auch noch in meiner Mittagspause, als ich zum Krankenhaus fuhr.
»Hey, Kumpel«, grüßte Chutsky erschöpft, als ich eintrat. »Keine große Veränderung. Sie hat ein paarmal die Augen geöffnet. Ich glaube, sie kommt ein bisschen zu Kräften.«
Ich setzte mich auf einen Stuhl am Bett, Chutsky gegenüber. Deborah sah nicht kräftiger aus. Sie sah genauso aus wie vorher – bleich, mit flacher Atmung, dem Tod näher als dem Leben. Ich hatte diesen Ausdruck schon oft gesehen, viele Male, aber er gehörte nicht zu Deborah. Er gehörte zu Menschen, die ich sorgfältig auf diesen Ausdruck vorbereitet hatte, während ich sie den dunklen Abhang hinunter in die Leere
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