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Die schöne Kunst des Mordens

Titel: Die schöne Kunst des Mordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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die Tür.
    »Gus«, sagte er überrascht. »Komm doch rein.«
    Gus Rigby war Harrys ältester Freund bei der Polizei. Sie waren einander Trauzeugen gewesen, und Harry war der Pate von Gus’ Tochter Betsy. Seit seiner Scheidung hatte Gus Feiertage und besondere Anlässe immer bei uns gefeiert, wenn auch nicht mehr so oft, seit Doris krank geworden war, und er brachte stets einen Limonenkuchen mit.
    Im Augenblick wirkte er jedoch nicht wahnsinnig gesellig, und Kuchen hatte er auch nicht dabei. Er sah aufgebracht und verstört aus, als er sagte: »Wir müssen reden« und sich an Harry vorbei ins Haus schob.
    »Worüber?«, fragte Harry, der noch in der Tür stand.
    Gus drehte sich um und knurrte: »Otto Valdez ist wieder draußen.«
    Harry starrte ihn an. »Wie ist er rausgekommen?«
    »Mit Hilfe seines Anwalts. Er hat behauptet, es wäre übertriebene Gewaltanwendung gewesen.«
    Harry nickte. »Du bist ganz schön grob mit ihm umgesprungen, Gus.«
    »Er ist ein Kinderschänder«, schnauzte Gus. »Soll ich ihn etwa küssen?«
    »Schon gut.« Harry schloss und verriegelte die Tür.
    »Jetzt ist er hinter mir her«, sagte Gus. »Das Telefon klingelt, und niemand meldet sich, man hört nur Atemgeräusche. Aber ich weiß, dass er es ist. Und unter meiner Tür wurde eine Nachricht durchgeschoben. Bei mir zu
Hause,
Harry.«
    »Was sagt der Lieutenant?«
    Gus schüttelte den Kopf. »Ich will das allein durchziehen. Unauffällig. Und ich brauche deine Hilfe.«
    Mit dem wunderbaren Timing, das man nur im wahren Leben findet, endete die Folge im Fernsehen, und das Konservengelächter folgte Gus’ Worten auf den Fuß. Deborah lachte ebenfalls, doch schließlich sah sie auf. »Hi, Onkel Gus«, grüßte sie.
    »Hi, Debbie. Du wirst jeden Tag schöner.«
    Deb zog einen Flunsch. Damals schon brachte ihr gutes Aussehen sie in Verlegenheit, und sie mochte es nicht, wenn man sie darauf ansprach. »Danke«, erwiderte sie mürrisch.
    »Komm mit in die Küche«, sagte Harry, packte Gus beim Ellbogen und führte ihn weg.
    Ich wusste selbstverständlich, dass Harry mit Gus in die Küche ging, um zu verhindern, dass wir hörten, was gesprochen wurde, und natürlich war ich deshalb noch wesentlich erpichter darauf zu lauschen. Und da Harry nicht ausdrücklich angeordnet hatte: »Bleib hier und hör nicht zu«, konnte man es nicht mal als Lauschen bezeichnen!
    Ich stand ganz beiläufig vom Fernseher auf und ging den Flur hinunter in Richtung Toilette.
    Mitten im Flur blieb ich stehen und sah mich um: Deborah war bereits in die nächste Serie vertieft, und so glitt ich in einen kleinen, verschatteten Winkel und lauschte.
    »… wird sich das Gericht darum kümmern«, sagte Harry soeben.
    »So wie bisher?«, fragte Gus, der wütender klang, als ich ihn jemals erlebt hatte. »Komm schon, Harry, das weißt du doch besser.«
    »Wir dürfen keine Selbstjustiz üben, Gus.«
    »Vielleicht sollten wir das aber, verdammt.«
    Schweigen. Ich hörte, wie jemand den Kühlschrank öffnete, gefolgt von dem Geräusch einer Bierdose, die aufgerissen wurde.
    »Hör mal, Harry«, begann Gus schließlich. »Wir sind schon sehr lange bei der Polizei.«
    »Fast zwanzig Jahre«, bestätigte Harry.
    »Und ist dir nicht vom ersten Tag an aufgefallen, dass das System einfach nicht funktioniert? Dass die größten Arschlöcher immer einen Weg finden, aus dem Knast zu kommen, und wieder frei herumlaufen? Na?«
    »Deshalb haben wir noch lange nicht das Recht …«
    »Wer hat denn dann das Recht, Harry? Wenn nicht wir, wer dann?«
    Eine weitere lange Pause. Schließlich antwortete Harry, sehr leise, und ich musste mich anstrengen, um ihn verstehen zu können. »Du bist nicht in Vietnam gewesen.«
    Gus antwortete nicht.
    »Dort habe ich gelernt, dass einige von uns kaltblütig töten können und andere nicht. Die meisten können es nicht. Es tut einem schreckliche Dinge an.«
    »Was willst du damit sagen? Dass du mir recht gibst, aber nichts tun kannst? Wenn es jemals jemand verdient hat, Harry, dann Otto Valdez …«
    »Was machst du da?«, erklang Deborahs Stimme ungefähr zwanzig Zentimeter vor meinem Ohr. Ich schrak so heftig zusammen, dass ich mit dem Kopf an die Wand stieß.
    »Nichts«, sagte ich.
    »Komischer Platz dafür«, meinte sie, und da sie keine Neigung zeigte, wieder zu verschwinden, beschloss ich, dass ich mit Lauschen fertig war, und ging zurück in die Zombiezone vor dem Fernseher. Ich hatte gewiss genug gehört, um zu wissen, worum es ging, und es

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