Die schoene Luegnerin
seinen Pfiff nicht zu verpassen.
Nach kurzer Zeit kletterte Josh wieder Hand über Hand in die Höhe. Er war so geschickt, daß sich Carrie schon fragte, ob er früher zur See gefahren und öfter in der Takelage herumgeklettert war.
Er strahlte — eine solche Freude hatte Carrie noch nie in seinem Gesicht gesehen, und sie wußte, daß es Tem gutging. Ihre Tränen vermischten sich mit den Regentropfen auf ihrem Gesicht.
»Er ist da unten, und er lebt, aber er hat das Bewußtsein verloren. Ich muß ihn irgendwie heraufschaffen«, rief er. »Ich brauche eine Schlinge oder etwas Ähnliches. «
Carrie wußte augenblicklich, daß Josh sie um Rat fragte und ihre Hilfe erbat. Sie dachte fieberhaft nach, was sie alles bei sich hatten. Sie konnten unmöglich zurückreiten und irgend etwas holen, was man zu einer Art Tragesitz für ein bewußtloses Kind machen konnte. Die Leinentaschen und -tücher waren nicht fest genug, um Tems Gewicht auszuhalten, und sie hatten nicht genügend Seile.
Plötzlich streckte Josh seine Hand aus und legte sie auf Carries Taille. Seine Finger tasteten ihren Bauch ab.
Sie brauchte nur einen Moment, bis sie verstand, dann lächelte sie. Ja, ihr Korsett. Sofort knöpfte sie, mit Joshs geschickter Hilfe, ihr Hemd auf und zog die Hose aus. Mit flinken Fingern löste Josh die Bänder ihres Korsetts, und als er es in der Hand hatte, betrachtete er es stirnrunzelnd. Er bezweifelte, ob es groß genug war. Carrie reichte ihm ihren Gürtel und die Hose und zeigte ihm, wie er die Hosenbeine um Tems Körper binden konnte.
Josh nickte und machte sich mit den meisten ihrer Kleidungsstücke erneut an den Abstieg. »Wenn ich ihn sicher und fest an mich gebunden habe, pfeife ich. Dann fangen Sie an zu ziehen. Alles klar? «
»Ja. «
Bevor er sich über den Rand schob, hielt er einen Augenblick inne. Carrie wußte, was er empfand, denn ihr erging es genauso. Als wären sie Freunde und Liebende für immer, beugte sie sich vor und küßte ihn. »Viel Glück«, hauchte sie an seinen Lippen.
»Hals- und Beinbruch«, sagte er und verschwand in die Tiefe.
Carrie konnte überhaupt nichts sehen, und ihr erschien die Zeit, die Josh dort unten verbrachte, wie eine Ewigkeit. Sie lag auf dem Bauch im Schlamm, starrte in die Tiefe und lauschte angestrengt. Sie merkte gar nicht, daß sie außer den Stiefeln, der knielangen Unterhose und dem Hemd nichts am Leibe trug. Der dünne Baumwollstoff bot keinen Schutz gegen die Kälte und die Feuchtigkeit, aber sie spürte weder den Sturm noch den Regen. All ihre Sinne und Konzentration waren auf die düstere Tiefe gerichtet.
Nach einer endlosen Zeit hörte sie den Pfiff, und als sie zu dem Baum lief, sandte sie ein Dankgebet zum Himmel. Sie ergriff das Seil und zog. Sie war jung, stark und so entschlossen wie nie — sonst hätte sie sicher nicht die Kraft aufgebracht, die Last in die Höhe zu hieven. Das Wissen, daß Tem und Josh sie brauchten, um in Sicherheit zu kommen, verlieh ihr schier übermenschliche Stärke.
Einmal glaubte sie, daß ihr jemand half, an dem Seil zu ziehen, aber als sie nach hinten sah, war niemand da. Als ein Blitz ihre Umgebung in Licht tauchte, hätte sie beinahe laut geschrien, als sie einen alten Mann in schmutziger Lederkleidung hinter sich entdeckte, der nach Kräften mit an dem Seil zog. Sie schluckte den Angstschrei hinunter, nickte ihm dankbar zu und verdoppelte ihre Bemühungen.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihr vorkam, erschien Joshs Kopf über dem Rand der Schlucht. Sie hielt den Atem an, aber dann sah sie, daß er Tem mit Hilfe ihrer Kleider an seinen Körper gebunden hatte.
Josh sicheren Boden unter den Füßen hatte, ließ sie das Seil fallen, rannte zu ihm und tastete Tem besorgt ab. Er sah mehr tot als lebendig aus.
Sie drehte sich um und spähte in die Dunkelheit — niemand war zu sehen, aber sie wußte, daß der alte Mann und das Mädchen noch in der Nähe waren. »Wo können wir uns vor dem Unwetter schützen? « rief sie. »Bitte, wir brauchen Hilfe. «
Sie mußte auf den nächsten Blitz warten, dann sah sie, daß das kleine Mädchen in Richtung Westen deutete. Josh und Carrie zögerten keine Sekunde, sie stolperten den Felsen hinunter auf ihre Pferde zu. Josh hielt seinen Sohn auf den Armen wie seinen kostbarsten Besitz.
Vor seinem Hengst blieb er stehen und reichte Carrie den Jungen. Sie staunte, wie schwer er war. Als Josh aufgestiegen war, hob er Tem mühelos vor sich in den Sattel. Carrie lief zu der Stute, löste die
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