Die schoene Luegnerin
daß es noch eine Person an diesem Tisch gab, die er einschüchtern und verunglimpfen konnte. Aber er hatte sich getäuscht.
»Noch etwas Mais, Bruder Hiram? « fragte Carrie mit einem bezaubernden Lächeln.
»Ich bin so frei. Das ist doch hoffentlich nicht der Mais, den mein kleiner Bruder angepflanzt hat? Für meinen Geschmack hat der nämlich zu viele Würmer. «
Carrie hob die Silberschüssel hoch und bot ihm etwas an, und als er danach faßte, leckte er sich wollüstig die Lippen und sagte: »Als Hausfrau mögen Sie ja eine Versagerin sein, aber Sie haben sicher eine besondere Begabung als Frau. « Carrie sah ihm noch immer lächelnd in die Augen und schüttete die Maiskolben auf seinen Schoß. Plötzlich lastete entsetztes Schweigen über dem Tisch, aber Carrie konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie nahm die Schüssel mit dem Rahmspinat und leerte sie über Hirams Kopf aus, schleuderte ihm den Krautsalat ins Gesicht und warf ihm den fetten Schinken an die Brust. Als sie zu dem Fleischmesser griff, hielt Josh ihr Handgelenk fest.
»Er hat kein Recht... «, begann Carrie.
Joshs Griff wurde fester. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte er.
»Und kein Mensch hat es für nötig befunden, mir irgend etwas zu erklären«, rief sie und stürmte aus dem Haus. Das alles ging sie offenbar überhaupt nichts an. Daß sie mit Josh verheiratet war und die Kinder aus tiefstem Herzen liebte, schien nicht die geringste Bedeutung zu haben.
Sie rannte, bis sie auf die Straße kam, und lief immer weiter — am liebsten wäre sie bis nach Maine so gerannt. Ihre Lungen brannten, und ihre Beine wurden schwer, und als sie keine Kraft mehr hatte, ging sie Fluß und setzte sich ans Ufer. Sie war noch nicht einmal richtig zu Atem gekommen, als ihr die Tränen über das Gesicht strömten.
Sie zog die Knie bis zu ihrem Kinn herauf, verbarg das Gesicht in den Falten ihres Kleides und weinte lange. Sie hatte sich so sehr bemüht, und sie hatte vollkommen versagt.
»Hier«, sagte eine Stimme neben ihr, und jemand hielt ihr ein Taschentuch hin.
Sie hob den Kopf und sah durch den Tränenschleier, daß Josh neben ihr saß. »Geh weg. Ich hasse dich. Ich hasse euch alle. Ich wünschte, ich könnte schon heute abreisen und müßte nicht bis morgen warten. Ich bin froh, wenn ich euch alle nie wiedersehe. «
Ohne auf ihre flammende Rede einzugehen, reichte er ihr eine Flasche. »Das ist guter schottischer Maltwhisky — meine letzte Flasche. «
Carrie nahm die Flasche und trank einen herzhaften Schluck, dann setzte sie nur kurz ab und trank noch einmal, ehe Josh ihr die Flasche aus der Hand nahm.
»Mein Bruder... «, begann er.
Carrie wartete. Der Whisky hatte seine Wirkung getan, sie fühlte sich ein wenig benommen und entspannt. Sie stützte sich auf die Hände und betrachtete den Fluß. Als Josh weiterhin schwieg, lachte sie spitz. »Ich wußte gleich, daß du mir nichts erzählen würdest. Du kannst deine Geheimnisse nicht mit mir teilen. « Sie musterte ihn von der Seite. »Du siehst deinem Bruder kein bißchen ähnlich. «
»Wir sind keine Blutsverwandten. Meine Mutter hat seinen Vater geheiratet, als ich zehn Jahre alt war, und Hiram war schon erwachsen. «
»War sein Vater auch so wie er? «
»Nein. « Josh trank einen großen Schluck aus der Flasche. »Ich glaube, mein Stiefvater hatte ein wenig Angst vor Hiram. «
Carrie kicherte. »Das kann ich ihm nachfühlen. War er schon immer so? « Sie deutete mit einer vagen Geste in Richtung Haus, das Meilen weit entfernt war.
Josh nahm noch einen Schluck und reichte Carrie die Flasche. »Männer, die wie Hiram sind, werden so geboren. Ich glaube, er war schon bei seiner Geburt überzeugt, daß er auf dem richtigen Weg ist und die Pflicht hat, dem Rest der Menschheit klarzumachen, wie man sein Leben zu fuhren hat. «
»Warum lebst du hier, auf seinem Besitz? «
Josh gab keine Antwort.
Carrie setzte die Flasche an und trank. »Ich bitte um Vergebung. Ich weiß, das ist eine der Fragen, die ich nicht stellen darf. Momentan hatte ich ganz vergessen, daß ich kein Mitglied der Greene-Familie bin, sondern nur ein hohlköpfiges kleines Mädchen, das gar kein Recht hat, sich hier aufzuhalten. « Sie stand auf. »Entschuldige mich bitte, ich gehe jetzt zum Haus zurück. «
Josh hielt sie am Rock fest. »Carrie, ich hätte dir ja alles erzählt, aber... «
Sie sah auf ihn nieder. »Aber was? «
»Du würdest mich verabscheuen, wenn du alles wüßtest. «
Das war nicht das, was sie
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