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Die schöne Mätresse

Die schöne Mätresse

Titel: Die schöne Mätresse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Justiss
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mit ihrem Gesang das Nahen des Morgens ankündigten, hauchte Richard sein Leben aus. Andrea hielt eine seiner Hände, Evan die andere.
    Andrea blickte auf. Ihre Miene war bestürzt, als könnte sie nicht begreifen, was geschehen war. Dann schmiegte sie den Kopf an die Brust ihres Bruders, und zum ersten Mal seit dem Erscheinen des Boten weinte sie.
    Wie er versprochen hatte, kehrte Evan mit dem leblosen Körper seines Freundes in der Kutsche nach London zurück. Andrea saß mit steinerner Miene neben ihm. Von Zeit zu Zeit las Evan einen Teil des Briefes vor, den ihm der Arzt gegeben hatte. Offensichtlich war es der letzte, den Richard vor seiner Verwundung geschrieben hatte.
    „Verdammt, Evan, die Hälfte der Kisten in der letzten Lieferung war leer, als wir sie bekamen! Glauben diese Schwachköpfe im Kriegsministerium etwa, wir sollten die Franzosen mit Kieselsteinen beschießen? Wenn vor dem nächsten Angriff keine Munition geliefert wird, werde ich nur noch eine Hand voll Schüsse für jeden Mann übrig haben.“
    Evan faltete das Blatt zusammen und starrte blicklos aus dem Fenster. Die Schlacht hatte viel Verwirrung gestiftet, wie einer der anderen verwundeten Soldaten ihm erzählt hatte. Wie üblich hatte Richards Regiment zuerst angegriffen, um die anrückenden Franzosen zu schwächen, während die Infanterie darauf gewartet hatte, dass der Feind in Schussweite gelangte. Doch bevor es ihnen möglich war zu feuern, schien die Artillerie in Schwierigkeiten zu geraten. Überall explodierten mehr Blindgänger als üblich. Als die Franzosen plötzlich die Richtung änderten und die Schützen angriffen, feuerten diese kaum noch. Die Feinde hatten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, alle niedermetzeln können, die ihnen im Weg standen.
    War die Munition mangelhaft gewesen, worauf die Blindgänger hinzuweisen schienen? Oder war ihnen die Munition ausgegangen? Hatte Richard sterben müssen, nur weil irgendein Mitarbeiter im Kriegsministerium seine Vertrauensstellung missbraucht hatte? War für schnöden Gewinn die Munition verkauft worden, die das Leben von Richard und den vielen anderen, die an jenem Tag gefallen waren, gerettet hätte?
    Ich werde es herausfinden, Richard, schwor sich Evan insgeheim. Falls mein Verdacht sich bestätigt, werde ich die Schuldigen finden – und sie werden bezahlen.
    Die nächsten beiden Tage vergingen wie im Fluge. Mit der ihm eigenen methodischen Vorgehensweise benachrichtigte Evan Freunde und Familie, organisierte die Beerdigung, setzte sich mit Anwälten in Verbindung und stand Andrea zur Seite, die ohne eine äußerliche Gefühlsregung Kondolenzbesuche entgegennahm. Evan wusste, wie schwer ihr diese Tapferkeit fiel.
    Die Abende verbrachte er im Kriegsministerium und notierte jedes Detail, das er über die Bestellung und den Transport der Munition finden konnte. Schließlich hatte er eine Aufstellung mit Namen und Treffpunkten zusammengestellt. Am Tag von Richards Beisetzung schickte er seinen Freund und Kollegen Geoffrey Randall mit dem Auftrag nach Portugal, heimlich Auskünfte über jeden Mann auf der Liste zu sammeln.
    „Kein falscher Heldenmut“, warnte er Geoffrey ernst. „Kümmere dich nur um die Informationen. Ich kann es mir nicht leisten, noch einen Freund zu verlieren.“
    Er hatte nur die Zeit, Emily eine kurze Nachricht zu senden, in der er ihr Richards Tod mitteilte und versprach, sie bald zu besuchen. Da er sich daran hindern wollte, über sein Versprechen an Richards Sterbebett oder dessen Konsequenzen nachzugrübeln, arbeitete er bis zur Erschöpfung. Auf diese Weise vergaß er auch für kurze Zeit den Schmerz über den Verlust seines Freundes.
    Andrea wollte London verlassen, also musste er sie nach Hause bringen. Er würde jedoch nicht aufbrechen, ohne zuvor Emily wiederzusehen, so viel stand fest. Weitere Gedanken über seine Zukunft verdrängte er entschlossen.
    Ein sanfter Nieselregen fiel am Tag der Beerdigung, wofür Evan dankbar war. Ein strahlend blauer Himmel und Sonnenschein hätten nicht zu dem schweren Verlust gepasst, den Richards Tod für alle bedeutete. Auch der dichte Nebel trug zu der düsteren Stimmung bei. Obwohl Clare weinend in den Armen ihrer Mutter zusammenbrach und selbst Evan Tränen über die Wangen liefen, ertrug Andrea alles standhaft. Ihre Augen blieben trocken, und sie hielt mit erhobenem Kopf den Blick auf den Sarg ihres Bruders gerichtet. Unter den Trauergästen zog eine scharlachrote Uniform Evans Aufmerksamkeit an, und

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