Die schöne Parfümhändlerin
einen Hand hielt er den Vorhang zur Seite, in der anderen balancierte er einen Glasbecher. Einen Moment lang erschien er ihr wie ein Fremder, nicht wie der Mann, der mit ihr getanzt, geschäkert und sie so leidenschaftlich geküsst hatte. Julietta war seiner die ganze Zeit unsicher gewesen, von dem ersten Augenblick an, als er ihren Laden betreten hatte. Und jetzt? Jetzt flößte er ihr sogar ein wenig Furcht ein … und sie wusste nicht recht, weshalb.
Missbilligte er ihr Tun? Hielt er die Karten für Teufelswerk? Viele Adelige erfreuten sich am Tarock, auch wenn manch einer begann, seine Bedenken zu äußern. Sie erinnerte sich, welchen Eindruck Marcos auf sie gemacht hatte, als sie ihn auf der prachtvollen Gondel des Dogen entdeckt hatte. An die Art, wie leicht es ihm fiel, sich unter die Reichen und Mächtigen zu mischen, unter Männer wie ihren Vater und wie damals ihren Schwiegervater. Sie dachte auch daran, was die Karten ihr vorausgesagt hatten: Ein kaltes Herz könne zu feuriger Leidenschaft entflammen – doch nur, wenn der Wille stark genug sei.
Vorsicht, glaubte sie jemanden wispern zu hören. Doch als sie sich verstohlen umblickte, sah sie niemanden. Selbst die Frau in Weiß, Maria, war samt ihren Karten verschwunden.
„Ich bringe Euch ein Dünnbier“, sagte Marcos und drückte ihr das kühle Glas in die Hand. „Es löscht besser den Durst als der schwere Wein.“
„Oh, danke!“ Vorsichtig probierte Julietta einen winzigen Schluck. Leicht bitter schmeckte das Gebräu, ein irgendwie unguter Beigeschmack fiel ihr nicht auf. „Es muss schon kurz vor Tagesanbruch sein.“
„So ist es.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Das war wieder der Marcos, den sie kannte – oder glaubte zu kennen. „Zeit, die Träume der Nacht zu beenden.“
„Schon?“ Es kam ihr vor, als wären sie gerade erst an diesem seltsamen Ort angekommen. Oder vielleicht auch, als hätte sie ihr ganzes Leben hier verbracht.
„Ich fürchte, ja. Aber morgen gibt es wieder eine Nacht, immer neue Nächte werden folgen. Alle würde ich mit Euch teilen, meine Sonne, wenn Ihr mich nur ließet.“
Julietta leerte ihr Glas und schaute zu Marcos auf. Sie schluckte die neckische Bemerkung, die sie auf den Lippen hatte, herunter, als sie in seine Augen sah. Ernst und feierlich schaute er sie an, so als sei seine Bitte durchaus aufrichtig gemeint.
„Ja, wir sollten uns verabschieden“, sagte sie und bückte sich, um das Glas auf den Boden zu stellen. Als sie sich wieder aufrichtete, nahm Marcos sie bei der Hand und führte sie aus der Kammer zurück in den Kreis der Feiernden. Die ausgelassene Stimmung war beträchtlich ruhiger geworden, die Trommeln hatten aufgehört zu schlagen, nur das leise Zupfen auf den Saiten einer einzelnen Laute war noch zu hören. Niemand tanzte mehr, viele Gäste hatten sich auf den Kissen ausgestreckt. Noch immer hing dichter Rauch in der Luft, leere Gläser und Krüge standen überall auf dem Boden herum.
Geschickt lenkte Marcos Julietta zwischen den ausgestreckten Leibern und dem Unrat des Frohsinns hindurch aus dem Raum und die steile Stiege hinauf, die zurück in die gewöhnliche Welt der Stadt führte. An seiner Hand fühlte sich Julietta, wie sich Eurydike gefühlt haben mochte, als sie von Orpheus aus der Unterwelt geführt wurde.
Die engen Gassen waren menschenleer. Julietta legte den Kopf zurück und atmete die süßlich feuchte Luft ein. Der Himmel war tiefblau, ein leichtes Rosa am Horizont kündete bereits den neuen Tag an.
„Es ist kühl“, sagte Marcos und legte ihr behutsam seinen Umhang über die Schultern. Eingehüllt in seinen Duft und die Wärme seines Körpers, fühlte sie sich sicher und geborgen. Der Mond wärmt die Sonne, dachte sie.
„Aber nun wird Euch kalt sein.“ Sie wollte sich den Umhang wieder von den Schultern ziehen. Obwohl sie, wenn sie ehrlich war, nichts lieber wünschte, als unter der sternenbesetzten samtenen Hülle Schutz zu suchen.
„Nein, Madonna, das Blut in meinen Adern kocht allzu heiß“, antwortete er mit einem bitteren Lächeln. Dann nahm er sie wieder bei der Hand, und während der Himmel über ihnen rosa, orange und lavendelblau erglühte, geleitete Marcos Julietta über die feuchtglatten Gassen zu ihrem Heim.
9. KAPITEL
Marcos hatte hinter sich die Türe geschlossen und den Umhang samt der Maske auf den Boden fallen lassen. Es kam ihm in seiner Kammer plötzlich ganz besonders still und einsam vor. Noch pulsierte das Blut in
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