Die schöne Spionin
barsch.
»Oh. In Ordnung.« Sie ging ein Stück schweigend neben ihm her.
Hatte sie vor, ihm wieder etwas vorzulügen?
»Bevor ich nach London gekommen bin, um nach Jamie zu suchen, habe ich immer nur auf dem Land gelebt. Mein Zuhause ist wunderschön. Besonders im Frühling, wenn die Apfelblüten einen solchen Duft verströmen, dass es einen fast trunken macht. Kurz bevor der Sommer beginnt, fallen dann die Blütenblätter, und ein paar verzauberte Tage lang schneit es Blumen.«
Simon lachte über ihre Phantasie. Sie sah ihn ein klein wenig misstrauisch an.
»Du hältst das für eine alberne Erfindung, aber es ist wahr. Als Kind habe ich die Blütenblätter zu einem Haufen zusammengerecht, genauso wie wir es im Herbst mit dem Laub gemacht haben, nur kleiner, natürlich.«
Sie lächelte in die Ferne. »Gerade groß genug, dass ein kleines Mädchen sich hineinwerfen und im rosafarbenen Schnee vergraben konnte.«
Simon konnte nicht anders. Die Vorstellung, dass eine kleine, pausbäckige Agatha sich in einen Berg aus Blüten stürzte, bezauberte ihn. »Warst du immer schon so?«
Sie sah zu ihm auf und zog eine Augenbraue hoch. »Wie meinst du das?«
»Frei wie ein Rehkitz übers Land jagend?«
Sie nickte. »Eine Zeit lang schon. Dann habe ich begriffen, dass ich nicht im Geringsten in Sicherheit war und bin brav in der Nähe des Hauses geblieben.«
»Warum warst du nicht in Sicherheit?«
»Reggie, der Rüpel, ist der Sohn des Lo… Landbesitzers nebenan. Er ist ein grässlicher Mann, und er war ein grässlicher Junge.« Sie ging eine Weile schweigend neben ihm her. »Er hat mich, als ich noch ein kleines Mädchen war, einmal alleine erwischt. Ich kann nicht älter als elf gewesen sein, also war er ungefähr siebzehn.«
Simon wollte es nicht hören. Er wollte nicht wissen, dass das Leben des kleinen Mädchens nicht nur aus Apfelblüten bestand.
»Ich bin übers Land gejagt, wie du es formuliert hast. Ich war den ganzen Tag in den Obstgärten und bin in der Unterhose im Bach schwimmen gegangen.«
Sie wurde langsamer, und Simon spürte, wie ihre zu einem Flüstern gesenkte Stimme, ihn zu ihr hinzog. Sie sah auf ihre Hände, die mit der Orange spielten, die er ihr gekauft hatte.
»Ich hab nicht gemerkt, dass er mich beobachtet hat. Er ist mir gefolgt, möglicherweise wochenlang. Ich war noch sehr jung, aber ich sah schon… etwas älter aus, verstehst du? Ich war nicht groß, aber schon ziemlich entwickelt.«
Der Zorn wand sich wie eine giftige Schlingpflanze durch Simons Eingeweide. Eine Kindfrau, in ihrer Kinderwelt verloren – während ein Mann sie mit Begierde im schwarzen Herzen musterte.
»Wusste er, wie alt du in Wirklichkeit warst?«
Sie war erstaunt, ihn etwas sagen zu hören, doch sie nickte. »Natürlich. Wir kannten einander unser ganzes Leben lang.«
Dieser Bastard. Wenn Simon sie die Geschichte weitererzählen ließ, musste er, fürchtete er, jemanden umbringen. Jemanden namens Reggie.
»Wie auch immer, eines Tages hat er mir in der Ruine den Weg abgeschnitten. Es gibt da ein verfallenes Schloss… na ja, nicht ganz. Die Ruine eines alten Herrenhauses, aber für mich war es immer ein Schloss. Ich habe da oft gespielt. Ich nehme an, er wusste, dass ich da war.«
Sie drückte ihm abrupt die Orange in die Hand und drehte sich nach einem Stand mit getrockneten Feigen um. Simon betrachtete die klebrige Frucht in seinen Händen. Sie hatte der Orange ziemlich zugesetzt, auch wenn ihr Tonfall gelassen gewesen war.
Agatha kehrte mit einem Päckchen Feigen zurück und wirkte einigermaßen erholt. Sollte er sie bitten fortzufahren? Er hatte kein Recht dazu, doch wenn er nicht die ganze Wahrheit erfuhr, kam er vielleicht nie mehr zur Ruhe.
Sie sprach von sich aus weiter.
»Er hat sich auf mich gestürzt und mich auf den Boden gedrückt. Dann hat er das Oberteil meines Kleides zerrissen… Er war so viel größer als ich, es gab nichts, das ich hätte tun können. Er hat mich festgehalten… und mich angefasst.«
Sie hielt inne und verstaute die Feigen in der Handtasche. Als sie wieder aufsah, war sie zwar ein wenig blass, aber ruhig.
»Es kann nur ein paar Minuten gedauert haben, aber mir erschien es wie Stunden. Er wäre weiter gegangen, glaube ich, aber mein Geschrei hat ihm Angst gemacht. Ich kann sehr laut sein, wenn ich will. Reggie war immer schon ein Angsthase.«
Sie sagte nichts mehr, und sie gingen weiter. Obwohl sie sich durch eine Menschenmenge bewegten, war es, als umgäbe sie ihre
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