Die schöne Spionin
Ecke. Sie hatte nichts essen können.
Simon würde bald in seinem Zimmer allein sein. Allein, entspannt und bereit, ins Bett zu gehen.
Der Gedanke verursachte ihr ein warmes Prickeln, dem eine kalte Dusche aus purer Angst folgte. Was, wenn sie alles ganz falsch anstellte?
Sie war auf dem Land aufgewachsen und hatte, so lange sie denken konnte, mit Schafzucht zu tun gehabt. Wenn das Mutterschaf bereit war und der Schafbock auch, dann taten sie es einfach. Menschen brauchten dazu sicher auch keine Anleitung, oder?
Agatha hörte, wie Button mit Simons Abendessen eintraf. Ein paar Minuten später hörte sie, wie Button wieder ging.
Agatha beschloss zu warten, bis Simon gegessen hatte, und lief wieder auf und ab. Man sollte sein Essen schließlich verdaut haben, bevor man sich in… körperliche Aktivitäten stürzte.
Die Vorstellung erschütterte ihre Entschlossenheit, und sie sank auf die Matratze. Sie musste es nicht tun. Es war noch nicht zu spät, von ihrem Vorhaben abzulassen…
Und Simon zu verlieren. Ihren schönen Dieb zu verlieren und nie wieder sein atemberaubendes Lächeln zu sehen. Nie wieder sein Lachen durch ihren Körper vibrieren zu spüren und nie wieder den Zimthauch auf seinen Lippen zu schmecken.
Nie wieder das unvergleichliche Zusammengehörigkeitsgefühl zu verspüren, das ihre verdurstende Seele labte.
Die Entschlossenheit kehrte zurück. Agatha stand auf.
Das
war schlicht keine Option.
Sie holte tief Luft, ging ruhig zur Tür und trat auf den Gang.
Da sich Simon niemals ohne Strategie in einen Kampf stürzte, würde er die heutige Nacht auf die Planung verwenden.
Unglücklicherweise fiel ihm kein einziger Grund ein, weswegen Agatha seinetwegen James hätte verlassen sollen.
Der James, den Simon gekannt hatte, der Mann, den Agatha zu kennen glaubte, war der geeignetere Kandidat für ihre Liebesbezeigungen.
James war ein reicher, gebildeter Mann. Auch wenn Simon mittlerweile finanziell abgesichert und belesen war, seine niedrige Herkunft ließ sich nicht verleugnen.
James war ein Gentleman und bewegte sich frei in den höchsten Kreisen. Andererseits konnte ein Gentleman wie James kein gefallenes Mädchen wie Agatha heiraten, sondern ihr nur das Herz brechen.
Simon konnte… nein, er konnte sie gleichfalls nicht heiraten. Er könnte sie damit eines Tages noch in Gefahr bringen.
Andererseits war James nicht da, Simon aber schon.
Mit ihm war sie besser dran. Er verstand sie, und er verstand, was es bedeutete, zwischen zwei Welten zu leben.
Er konnte etwas für sein Land tun und Agatha gleichzeitig vor sich selbst retten. Aber er konnte sie nicht behalten und ihren Lebensunterhalt bestreiten. Nein, er würde dieses Haus kaufen und es ihr zum Geschenk machen.
Dann würde er sie vor die Wahl stellen. Es konnte nicht verkehrt sein, wenn sie als freie Frau zu ihm kam, als eine wissende, erfahrene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen traf.
Was sollte falsch daran sein, sich nach all den Jahren etwas Wärme zu suchen? Sich an Agathas heißem, süßen Fleisch und ihrer freigebigen Natur zu erfreuen?
Sie wäre nicht seine Hure. Sie wäre seine Frau, seine Partnerin, seine Gattin – nur nicht dem Namen nach.
Er war zuversichtlich, sie in sein Bett manövrieren zu können, um sich von dort aus in ihr Herz zu manövrieren. Damit war sie besser dran.
Oder?
Simon ließ das Tablett fast unberührt stehen, stand auf und marschierte rastlos durch das Zimmer.
Alles hier gehörte einem anderen Mann. Die Bücher und die Sachen auf der Frisierkommode gehörten James, die Kleider Mortimer. Von Simon stammte nichts bis auf die kleine Tüte Zimtpastillen, die er achtlos neben die Waschschüssel geworfen hatte.
Genau, wie es sein sollte.
Simon ging noch einmal die Bücher durch, die ihn nie überrascht hatten. Er hatte schon immer gewusst, dass James ein Faible für Daniel Defoe hatte. Irgendwann erwischte es jeden, der bei den Liars war.
Wer war dieser Mann, dieser König der Lügner? Ein Schriftsteller und ein Dichter, das wusste jeder. Aber nicht jeder wusste, dass er auch ein Meisterspion gewesen war.
War er ein Mann der großen Gefühl oder der kalten Logik gewesen? Ein Künstler oder eine Kunstfigur?
Diese Frage setzte ihm zu, wenn er sich, wie jeder von ihnen, mit dem ewigen Konflikt befasste, einerseits ein Mann und andererseits ein Spion zu sein.
Simon nahm
Moll Flanders
aus dem Regal und wog das Buch in der Hand. Seine brennendste Frage war immer gewesen: Wo hatte der Mann die Zeit
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