Die schöne Spionin
Wange.
»Ja, Madam. Das höre ich recht oft.«
»Wie, Pearson, war das etwa ein Scherz?«
»Nein, Madam. Butlern ist es verboten zu scherzen. So will es das Gesetz.« Er hielt ihr die Tür auf. »Mr Applequist befindet sich einen halben Block entfernt zu Ihrer Linken, Madam.«
»Danke, Pearson.«
Ermutigt von der Vorstellung, in ihrem Butler einen Verbündeten zu haben, lief Agatha mit hüpfendem Schritt, den Mund voll Ei, hinter Simon her.
Anfangs hatte sie vor, den Bastard zu stellen und ein ordentliches Spektakel zu veranstalten, das die ganze Nachbarschaft aufweckte.
Aber sein Schritt war zu lang, und Agatha bekam langsam die Auswirkungen des gesetzten Stadtlebens zu spüren. Sie entschied, ihm einfach nur zu folgen, bis er da war, wo er hinwollte.
Ein paar Blocks später bog er in eine ruhige Straße ein und ging die Treppe zu einem bescheidenen kleinen Haus hinauf. Agatha bemühte sich aufzuholen.
Man ließ ihn sofort ein, und er verschwand im Haus. Agatha zögerte. Sie wollte Simon abfangen, doch falls er in irgendwelchen zwielichtigen Spionagegeschäften unterwegs war, wollte sie nicht schuld sein, wenn man ihn entdeckte.
Vielleicht wartete sie am besten erst einmal ab. Ihre brennende Neugier hatte mit diesem Entschluss natürlich nichts zu tun. Es war zu dumm, dass sie nicht ins Haus sehen konnte. An sämtlichen Fenstern im Erdgeschoss waren die Vorhänge zugezogen.
Sie hätte dasselbe getan, wäre ihre Privatsphäre von der Straße aus so genau zu sehen gewesen, aber zum Spionieren war es schlecht.
Da bemerkte sie eine Bewegung. Im ersten Stock schob eine sehr effizient aussehende Frau in Schwesterntracht einen Vorhang auf. Agatha drückte sich schnell in den Schatten.
Das Zimmer lag zu hoch um hineinzusehen, und Agatha hörte auch nichts, weil das Fenster wegen der frühmorgendlichen Kälte noch geschlossen war.
Verflucht, aber er musste ja früher oder später wieder herauskommen.
Sie hatte gerade möglichst ungezwungen an der Ecke des Hauses Position bezogen, als die Tür aufging. Sie duckte sich hinter den Ziegelbesatz der Hausecke und spähte vorsichtig zurück. Moment mal, wollte sie ihn nun stellen oder nicht?
Ihn stellen, natürlich. Aber was für atemberaubende Dinge fand sie vielleicht heraus, wenn sie sich nicht zeigte?
Simon stand mit der Krankenschwester auf der Treppe.
»Ich weiß, dass Sie sich große Hoffnungen machen, Sir. Ich tue mein Bestes.«
»Ich hoffe nur, dass er wieder er selbst wird, Mrs Neely.«
»Der arme Junge. Ich sage ihm jede Stunde seinen Namen vor, wie Sie gesagt haben, und ich lese ihm außerdem vor.«
»Ich weiß, ich könnte mir keine bessere Pflege vorstellen. Wir müssen jetzt einfach abwarten.«
»Ja, Sir. Kommen Sie morgen wieder.«
»Ich versuche es.«
Simon wandte sich zu Gehen. Sein Blick streifte Agathas Versteck. Sie duckte sich schnell. Hatte er sie gesehen?
Einen atemlosen Augenblick später sah sie wieder hin. Simon war einen halben Block entfernt und bewegte sich mit seiner typischen katzenhaften Geschmeidigkeit.
Agatha seufzte erleichtert auf und folgte ihm mit großem Abstand. Er sah wirklich gut aus von hinten. Eine ihrer Lieblingsansichten, genau genommen. Und es war ein wunderbarer Tag für einen Spaziergang. Agatha nahm sich vor, den Ausflug zu genießen.
Eine Stunde später war sie nicht mehr so begeistert. Simon hatte sie auf einen ordentlichen Marsch mitgenommen, kreuz und quer durch Mayfair und darüber hinaus.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie war, ihre Füße taten weh, und sie hatte Hunger. Pearsons köstliches Sandwich war nur noch eine entfernte Erinnerung.
Simon lief jetzt durch ein Geschäftsviertel, wo hauptsächlich Tuchhändler und Schneider ansässig waren sowie das eine oder andere verführerische Restaurant. Agatha widerstand, aber leicht war es nicht.
Je weiter der Morgen fortschritt, desto belebter waren die Straßen, und Agatha hatte langsam Schwierigkeiten, Simons blauem Gehrock und seinem schwarzen Hut mit dem passenden blauen Band zu folgen.
Plötzlich sah sie ihn nicht mehr. Wo war er hingekommen? Sie riskierte es, entdeckt zu werden, und stieg eine Treppe hinauf, um die Menge nach ihm abzusuchen.
Nichts. Sie hatte ihn verloren.
Und sie selbst hatte sich verlaufen.
Simon drückte dem Mann ein paar Pfundnoten in die Hand und verabschiedete sich. Dann setzte er den neuen braunen Biberhut auf, der gut zu dem neuen braunen Filzmantel passte, und machte sich leise lachend zum Liar’s Club
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