Die schoenen Muetter anderer Toechter
kennenlernte, die Opfer von sexuellem Missbrauch waren, begriff ich, dass Notwehr und Stolz oft nah beieinander liegen. Es gab so viele unter uns, die nur hier ihren Kopf hoch zu tragen wagten. Und manchmal nicht einmal das. Denn je tiefer ich in die engen Strukturen der Szene geriet, sie nicht nur begeistert ansah, sondern sie durchschaute, desto befremdeter musste ich immer wieder feststellen, dass auch wir einander nicht nur Schutz und Hilfe gewährten. Auch wir Lesben wurden zu Täterinnen und Aggressoren füreinander, kämpften nicht immer mit-, sondern auch mal gegeneinander. Es war eben so, wie es überall ist, wenn Liebe und Hass, wenn gleichberechtigte Sexualität und sexualisierte Macht miteinander ringen. Es schien mir wie eine große Familie, in der einzelne Mitglieder sich nach dem Leben trachten und alle sorgsam darauf achten, dass das Wissen darüber nicht nach außen dringt. Nestbeschmutzung wäre es, darüber mit der Nachbarschaft zu reden.
Wenn ich so recht darüber nachdachte, hatte ich Frauke auch noch nie davon erzählt, dass mein Rückzug aus der Szene vor einigen Jahren nicht nur etwas mit meiner Zigarettenqualmallergie zu tun hatte …
Die arme Frauke hielt also dieses Gewimmel hier für eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jede die andere kannte und – selbstverständlich – mochte. Kein Wunder, dass sie befürchtete, sofort aufzufallen, und daher nicht wagte, einer der uns umgebenden Frauen ins Gesicht zu sehen. Jeder Blickkontakt war ihrer Meinung nach Anlass zu einem kleinen Flirt, dem sie so hilflos gegenüberstand.
»Hast du sie schon gesehen?«, fragte sie, kaum dass ich mit meinen Krücken über die Schwelle gehumpelt war.
Ich sah mich angespannt um.
Woher wollte ich eigentlich wissen, dass SIE heute Abend hier auftauchen würde? Viel zu viel in ihrem Verhalten hatte dafür gesprochen, dass sie zwar schon diverse Szene-Eindrücke gesammelt, jedoch den rechten Anschluss noch nicht gefunden hatte. Genau wie Ellen glaubte ich daher, dass SIE noch nicht lange zu den Schwofs ging. Und mit denen verhielt es sich ganz ähnlich wie mit allen anderen Süchten auch: Anfangs reichte eine geringe Dosis für den Kick. Das konnte unter Umständen bedeuten: nur einmal im Monat.
Vielleicht saß SIE jetzt in diesem Augenblick im Kino, zu Hause in der Badewanne oder – mein Magen grummelte bei diesem Gedanken – auf dem Schoß ihrer Liebsten?
»Komm, schaun wir uns ein bisschen um. Alles kann man von hier aus ja nicht überblicken.«
Auf der Alm zu sein, bedeutet nicht, allein zu sein, und auf keinen Fall, einsam zu sein. Allerdings ist eines ganz sicher: Auf der Alm würden niemals sechshundert parfümierte, lippenkonturstiftverzierte, arrogant dreinblickende Möchte-gern-cool-Wirkende herumstehen, krampfig ihre Gläser halten und die Atmosphäre eines Fahrstuhls verbreiten.
Den Blick immer in die Ferne gerichtet, nur die anschauen, die selber gerade nicht gucken können, weil sie tanzen oder sich unterhalten. Die unmittelbaren Nachbarinnen im Voyeurinnenparkett an der Tanzfläche schaut keine an. Nein, das wäre gewiss zu intim.
Manchmal frage ich mich, wie es überhaupt sein kann, dass hin und wieder ein Wunder geschieht und zwei Frauen es fertig bringen, sich auf dem Schwof kennenzulernen.
Wenn ich so recht darüber nachdachte, fielen mir nicht viel mehr Orte ein, an denen sich viele Menschen bewegten, ohne einander zu begegnen. Es waren nicht nur die trostlosen Betonpfeiler und das schrille, bunte Discolicht, die mich in ihrer makabren Kombination irritierten. Die Einsamkeit in der Menge war es, weshalb ich mich von diesen Unternehmungen nach und nach zurückgezogen hatte. Meine Alm glitterte und glimmerte zwar nicht, aber das war gut zu verschmerzen, denn dort herrschte auch niemals diese Leere, die ich jetzt wieder in vielen Augen erkennen konnte. Was hatte mich nur früher jeden Samstag zu diesen Veranstaltungen gezogen? Mir schien mit dem Älterwerden der Sinn dafür verloren gegangen zu sein, indem ich einen anderen für etwas anderes entdeckte. Und jetzt vermisste ich meine Alm. Ich hatte meine Ruhe verloren. Missmutig starrte ich in die Masse der wogenden Körper und bekam so richtig miese Laune.
Warum musste ich Misses Right ausgerechnet hier begegnen?
»Wie gefällt es dir?«, wollte ich knurrig von Frauke wissen. Die stand eng an mich gedrückt und beobachtete atemlos zwei Frauen beim Standardtanzen.
»Das ist ein wirklich nettes Paar, nicht? Sind schon lange
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