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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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körperlichen Schwerelosigkeit. Sollte er jetzt nur kommen– davor hatte sie keine Angst mehr, aber erst musste sie noch den Bahnhof erreichen, das gehörte mit zum Spiel. Sie war glücklich. Ihren Hut, der ihr vom Kopf gerutscht war, hielt sie fest umklammert, und ihr kurzer Lockenschopf wippte [324] über ihren Ohren auf und nieder. Nie hätte sie geglaubt, sie würde sich noch einmal so jung fühlen, aber das hier war ihre Nacht, ihre Welt. Mit einem triumphierenden Lachen verließ sie den Steg, und als sie den hölzernen Bahnsteig erreichte, warf sie sich fröhlich neben einen eisernen Stützpfeiler.
    »Hier bin ich!«, rief sie, in ihrer Hochstimmung beschwingt wie die Morgenröte. »Hier bin ich, Anthony, lieber – alter, besorgter Anthony!«
    »Gloria!« Er gelangte zum Bahnsteig und rannte auf sie zu. »Es fehlt dir doch nichts?« Angekommen, kniete er sich vor sie und nahm sie in die Arme.
    »Nein.«
    »Was war denn? Warum bist du weggelaufen?«, fragte er angstvoll.
    »Ich musste einfach – etwas« – sie hielt inne, und in ihrer Erinnerung flackerte eine peitschende Unruhe auf –, »etwas hat auf mir gehockt – hier.« Sie legte die Hand auf ihre Brust. »Ich musste einfach hinaus und davon.«
    »Was meinst du mit ›etwas‹?«
    »Ich weiß nicht… dieser Hull…«
    »Hat er dich etwa behelligt?«
    »Er ist an meine Tür gekommen, betrunken. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt war ich schon ganz außer mir.«
    »Gloria, Liebste…«
    Erschöpft ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken.
    »Lass uns zurückgehen«, schlug er vor.
    Sie fröstelte.
    »Uh! Nein, das könnte ich nicht. Es würde wiederkommen und sich auf mich legen.« Ihre Stimme steigerte sich zu [325] einem Schrei, der klagend in der Dunkelheit schwebte. »Dieses Etwas…«
    »Ist ja schon gut«, beschwichtigte er sie und zog sie fest an sich heran. »Wir werden nichts unternehmen, was du nicht willst. Was willst du denn? Einfach sitzen bleiben?«
    »Ich will – ich will fort.«
    »Wohin denn?«
    »Ach – irgendwohin.«
    »Menschenskinder, Gloria«, rief er, »du bist ja immer noch blau!«
    »Nein, bin ich nicht. Bin ich den ganzen Abend nicht gewesen. Ich bin nach oben gegangen, ach, ich weiß nicht, ungefähr eine halbe Stunde nach dem Abendessen… Autsch!«
    Er hatte aus Versehen ihre rechte Schulter berührt.
    »Das tut weh. Irgendwie habe ich mir wehgetan. Ich weiß nicht – irgendjemand hat mich aufgehoben und wieder fallen lassen.«
    »Gloria, komm nach Hause. Es ist spät und feucht.«
    »Ich kann nicht«, jammerte sie. »Oh, Anthony, bitte mich nur darum nicht! Morgen, ja. Du gehst nach Hause, und ich warte hier auf einen Zug. Ich gehe in ein Hotel…«
    »Ich komme mit.«
    »Nein, ich will dich nicht bei mir haben. Ich möchte allein sein. Ich möchte schlafen – ach, ich möchte schlafen. Und morgen, wenn das Haus nicht mehr nach Whisky und Zigaretten riecht und alles wieder in Ordnung ist und Hull weg, dann komme ich nach Hause. Wenn ich jetzt ginge, würde dieses Etwas… oh…!« Sie schlug die Hände vors Gesicht; Anthony sah, wie aussichtslos es war, sie umstimmen zu wollen.
    [326] »Ich war ganz nüchtern, als du verschwunden bist«, sagte er. »Dick ist auf dem Sofa eingeschlafen, und Maury und ich haben diskutiert. Dieser Hull ist irgendwo herumgeirrt. Dann habe ich gemerkt, dass ich dich mehrere Stunden nicht gesehen hatte, und bin nach oben gegangen –«
    Er brach ab, als aus dem Dunkel zur Begrüßung plötzlich ein »Hallo auch!« dröhnte. Gloria sprang auf, und er ebenfalls.
    »Das ist Maurys Stimme«, rief sie erregt. »Wenn Hull bei ihnen ist, halte sie mir vom Leib, halte sie mir vom Leib!«
    »Wer ist da?«, rief Anthony.
    »Nur Dick und Maury«, ließen sich beruhigend zwei Stimmen vernehmen.
    »Wo ist Hull?«
    »Im Bett. Zusammengeklappt.«
    Auf dem Bahnsteig tauchten die Umrisse ihrer Gestalten auf.
    »Was zum Teufel macht ihr denn hier?«, erkundigte sich Richard Caramel schläfrig verwirrt.
    »Was macht ihr denn hier?«
    Maury lachte.
    »Wenn ich das nur wüsste. Wir sind dir nachgegangen und hatten unsere liebe Mühe damit. Ich hab dich auf der Veranda nach Gloria rufen hören, da hab ich die Karamelle hier geweckt und ihr mühsam klarmachen können, wir sollten, wenn es schon einen Suchtrupp gibt, besser mit von der Partie sein. Er hat mich ganz schön aufgehalten, weil er sich dauernd auf die Straße gehockt und mich gefragt hat, was das alles soll. Aufgespürt haben wir euch mit Hilfe des

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