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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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und Reichweite. Und dieses Gewicht drückte sie, drückte sie – oh, wie es sie drückte!
    Sie erstarrte. Jemand war zur Tür gekommen, war stehengeblieben und betrachtete sie, bis auf ein leises Schwanken völlig reglos. Gegen das kaum wahrnehmbare Licht konnte sie die Umrisse der Gestalt sehen. Nirgendwo ein Laut, nur eine große, durchdringende Stille – selbst das Tropfen hatte aufgehört… nur diese Gestalt, die da schwankte, in der Tür schwankte, ein verwischter und tückisch bedrohlicher Mahr, ein Mensch, der unter seinem Lack abscheulich war wie Pockennarben unter einer Puderschicht. Doch ihr müdes Herz – es pochte, dass ihre Brüste bebten – verriet ihr, dass noch Leben in ihr war, wenn auch entsetzlich durcheinandergerüttelt, bedroht…
    Die Minute oder Folge von Minuten dehnte sich endlos, und allmählich verschwamm und verwischte sich alles vor ihren Augen, die in kindischem Starrsinn versuchten, das Dunkel zur Tür hin zu durchdringen. Im nächsten Augenblick schien es, als wolle eine unvorstellbare Gewalt sie aus dem Leben reißen… doch dann drehte sich die Gestalt in der Tür – es war Hull, jetzt sah sie es, Hull – bedächtig [319] um und entfernte sich, noch immer schwankend, wie verschluckt von dem undurchdringlichen Licht, das ihr Räumlichkeit verliehen hatte.
    Das Blut schoss ihr wieder in die Glieder, Blut und Leben in einem. Mit einem energischen Ruck richtete sie sich auf und verlagerte ihren Körper, bis ihre Füße den Boden neben dem Bett berührten. Sie wusste, was sie zu tun hatte– jetzt, jetzt, bevor es zu spät war. Sie musste hinaus in den kühlen Dunst, hinaus und fort, das nasse Rascheln des Grases um ihre Füße verspüren und die frische Feuchte auf ihrer Stirn. Mechanisch fuhr sie in ihre Kleider und tastete im Dunkel des Wandschranks nach einem Hut. Sie musste fort aus diesem Haus, in dem etwas umging, was sich auf ihre Brust legte oder sich im Finstern in streunende, schwankende Gestalten verwandelte.
    In panischer Angst nestelte sie unbeholfen an ihrem Mantel. Sie fand den Ärmel in dem Augenblick, als sie am Fußende der Treppe Anthonys Schritte hörte. Sie wagte nicht zu warten; womöglich ließ er sie nicht gehen, und selbst Anthony war Teil dieses Gewichts, Teil dieses verwünschten Hauses und der trüben Finsternis, die es verschluckte…
    Also den Gang entlang… und die Hintertreppe hinunter. Vom Schlafzimmer her, das sie eben verlassen hatte, hörte sie Anthonys Stimme. »Gloria! Gloria!«
    Aber jetzt war sie in der Küche angelangt und schlüpfte zur Tür hinaus in die Nacht. Hundert Tropfen sprühten, vom aufbrausenden Wind aus einem triefnassen Baum geschüttelt, auf sie herab, und dankbar drückte sie sie mit heißen Händen an ihr Gesicht.
    »Gloria! Gloria!«
    [320] Die Stimme war unendlich weit fort; durch die Mauern, die sie hinter sich gelassen hatte, klang sie gedämpft und klagend. Gloria bog um die Hausecke und ging los, den Gartenweg zur Straße hinunter; fast frohlockte sie, als sie zu dieser gelangte und sich, dem flachen Grasteppich am Rand folgend, im dichten Dunkel vorsichtig voranbewegte.
    »Gloria!«
    Sie verfiel in Trab und stolperte über einen Ast, den der Wind abgeknickt hatte. Die Stimme befand sich nunmehr vor dem Haus. Anthony, der das Schlafzimmer leer vorgefunden hatte, war auf die Veranda getreten. Doch etwas trieb sie vorwärts, und sie musste ihre Flucht unter diesem trüben, bedrückenden Himmel fortsetzen, sich vorankämpfen durch die Stille, die wie eine greifbare Barriere vor ihr lag.
    Sie hatte auf der kaum erkennbaren Straße einige Entfernung zurückgelegt, vielleicht einen dreiviertel Kilometer, und kam an einem abgelegenen leerstehenden Schuppen vorbei, der schwarz und unheilkündend vor ihr aufragte, das einzige Gebäude zwischen dem grauen Haus und Marietta; dann bog sie in die Seitenstraße ein, die in den Wald führte und zwischen zwei hohen Wänden aus Blättern und Zweigen verlief, die sich über ihrem Kopf beinahe berührten. Plötzlich bemerkte sie vor sich auf der Straße einen schmalen, länglichen Silberstreif, wie ein glänzendes Schwert, das halb im Schlamm vergraben war. Als sie näher kam, gab sie einen leisen Ausruf der Genugtuung von sich – es war eine Wagenspur voll Wasser, und als sie zum Himmel aufblickte, sah sie, dass die Wolkendecke leicht aufgerissen war. Da wusste sie, dass der Mond schien.
    »Gloria!«
    [321] Sie zuckte heftig zusammen. Anthony war keine siebzig Meter hinter

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