Die Schönen und Verdammten
ihr.
»Gloria, so warte doch!«
Sie presste die Lippen fest zusammen, um sich am Schreien zu hindern, und beschleunigte ihre Schritte. Bevor sie weitere dreißig Meter gelaufen war, trat der Wald zurück, rollte sich wie ein dunkler Strumpf vom Bein der Straße hinunter. In einer Entfernung von drei Gehminuten sah sie in der nunmehr hohen und grenzenlosen Luft ein dünnes, schwach glitzerndes und glänzendes Netz hängen, das, von regelmäßigen Wellen bewegt, in irgendeinem unsichtbaren Punkt zusammenlief. Mit einemmal wusste sie, wohin sie gehen würde. Es war die große Kaskade von Drähten, die sich wie die Beine einer riesigen Spinne, deren Auge das kleine grüne Licht im Stellwerk war, hoch über den Fluss erhoben und zusammen mit der Eisenbahnbrücke auf den Bahnhof zuliefen. Der Bahnhof! Da würde der Zug stehen, der sie mitnähme.
»Gloria, ich bin’s! Anthony! Gloria, ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten. Um Himmels willen, wo steckst du denn nur?«
Sie gab keine Antwort, sondern fing an zu rennen, wobei sie sich an den erhöhten Straßenrand hielt und über die schimmernden Pfützen hinwegsprang – winzig kleine Lachen dünnen, unstofflichen Goldes. Jählings bog sie nach links ab und folgte einem schmalen Fuhrweg. Sie machte einen Schlenker, um einem dunklen Körper auszuweichen, der auf dem Boden lag. Vor sich sah sie die Rampe, die zur Eisenbahnbrücke führte, und die Stufen, die hinaufgingen. Der Bahnhof lag am anderen Ufer.
[322] Wieder schreckte ein Geräusch sie auf, die melancholische Sirene eines herannahenden Zuges und, fast gleichzeitig, ein wiederholtes Rufen, schwach und weit entfernt.
»Gloria! Gloria!«
Anthony musste der Hauptstraße gefolgt sein. Mit einer Art tückischer Bosheit lachte sie darüber, dass sie ihm entkommen war; so konnte sie es sich leisten, zu warten, bis der Zug vorbeigefahren wäre.
Wieder heulte die Sirene auf, diesmal näher, und dann schob sich, ohne sich mit Gebrülle und Getöse anzukündigen, ein dunkler, sehniger Leib aus dem Dunkel des hohen Bahndamms ins Blickfeld und bewegte sich lautlos, bis auf das Brausen des zerteilten Windes und das uhrwerkhafte Rattern der Schienen, auf die Brücke zu – es war ein elektrischer Zug. Zwei kräftige blaue Lichtkleckse über der Lokomotive bildeten eine unablässig leuchtende, knisternde Stange, die – wie die unruhige Flamme einer Totenlampe – für einen Moment die Baumreihen erhellte und Gloria veranlasste, instinktiv auf die andere Straßenseite auszuweichen. Das Licht war lau – von der Temperatur warmen Blutes… Plötzlich zog sich das Rattern zu einem gleichmäßigen Gebrause zusammen, dann raste das Ding, hingestreckt in düsterer Geschmeidigkeit, blind an ihr vorüber, donnerte über die Brücke und jagte dem gespenstisch fahlen Feuerstrahl nach, der sich im feierlichen Fluss spiegelte. Danach fiel es rasch in sich zusammen, und der Lärm wurde verschluckt, bis nur noch ein widerhallendes Echo zurückblieb, das auf der anderen Uferseite erstarb.
Wieder kroch Stille über das nasse Land; das schwache Getröpfel setzte wieder ein, und plötzlich benetzte ein [323] großer Tropfenschauer Gloria und schreckte sie aus der tranceähnlichen Starre, in die der vorbeifahrende Zug sie versetzt hatte. Schnell rannte sie die Böschung hinab zum Ufer und fing an, die Eisentreppe zur Brücke hinaufzuklettern. Dabei fiel ihr ein, dass sie das schon immer einmal hatte tun wollen und dass sie die zusätzliche Aufregung genießen würde, den ein Meter breiten Holzsteg zu überqueren, der neben den Gleisen über den Fluss führte.
Da! Das war besser! Jetzt war sie oben angelangt und konnte das Umland sehen: weite Strecken flachen Landes, kalt unter dem Mond, von dichten Baumgruppen und schmalen Baumreihen grob zusammengeflickt und gesäumt. Zur Rechten, einen dreiviertel Kilometer den Fluss entlang, der sich jenseits des Lichts wie die schimmernde Schleimspur einer Schnecke verlor, blinkten verstreut die Lichter von Marietta. Keine siebzig Meter entfernt am Ende der Brücke kauerte der von einer Ölfunzel beleuchtete Bahnhof. Der Druck war jetzt von ihr gewichen – die Baumwipfel unter ihr wiegten das junge Sternenlicht in einen unruhigen Schlummer. In einer Geste der Freiheit streckte sie die Arme aus. Genau das hatte sie gewollt: allein zu stehen, dort, wo es hoch und kühl war.
»Gloria!«
Wie ein erschrockenes Kind hastete sie den Steg entlang, hopste, hüpfte, sprang in dem ekstatischen Gefühl ihrer
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