Die Schönen und Verdammten
– Angst.
Panik
»Und?« Anthony setzte sich im Bett auf und blickte auf sie herab. Seine Mundwinkel zogen sich deprimiert nach unten, seine Stimme klang belegt und hohl.
[363] Ihre Antwort bestand darin, die Hand an den Mund zu heben und langsam und beharrlich an ihrem Finger zu nagen.
»Das hätten wir also geschafft«, sagte er nach einer Pause. Es irritierte ihn, dass sie weiterhin schwieg. »Warum sagst du denn nichts?«
»Was in Gottes Namen soll ich denn sagen?«
»Was denkst du gerade?«
»Nichts.«
»Dann hör auf, an deinem Finger herumzuknabbern!«
Es folgte eine kurze, wirre Diskussion darüber, ob sie nun etwas gedacht hatte oder nicht. Es schien Anthony unerlässlich, dass sie über die Kalamität der vergangenen Nacht laut nachdachte. Ihr Schweigen war ihre Methode, die Verantwortung auf ihn abzuschieben. Sie für ihr Teil sah keine Veranlassung zu sprechen – die Lage erforderte, dass sie an ihrem Finger nagte wie ein nervöses Kind.
»Ich muss zu meinem Großvater und die Karre wieder aus dem Dreck ziehen«, sagte er mit unbehaglichem Nachdruck. In der Verwendung von »mein Großvater« anstelle von »Opapa« zeigte sich ein leiser, neugewonnener Respekt.
»Das schaffst du nicht«, versicherte sie abrupt. »Das schaffst du nie – niemals. Er wird dir nie verzeihen, solange er lebt.«
»Vielleicht nicht«, stimmte Anthony unglücklich zu. »Trotzdem – vielleicht kann ich die Sache ja mit einem Akt der Einkehr und diesem ganzen Brimborium wieder einrenken…«
»Er sah krank aus«, unterbrach sie ihn, »weiß wie Mehl.«
[364] »Er ist krank. Das habe ich dir schon vor drei Monaten gesagt.«
»Ich wollte, er wäre letzte Woche gestorben!«, sagte sie verdrießlich. »Rücksichtsloser alter Narr!«
Keiner von beiden lachte.
»Aber eines will ich dir sagen«, fügte sie ruhig an, »wenn ich noch einmal sehe, dass du dich einer Frau gegenüber so benimmst wie gestern Abend mit Rachael Barnes, dann verlasse ich dich – ganz – einfach – so ! Ich lasse mir das einfach nicht mehr bieten!«
Anthony zuckte zusammen.
»Ach, red doch keinen Unsinn«, widersprach er. »Du weißt doch, dass es für mich keine andere Frau auf der Welt gibt außer dir – keine einzige, Liebste.«
Sein Versuch, einen zärtlichen Ton anzuschlagen, scheiterte jämmerlich – die drängendere Gefahr schob sich wieder in den Vordergrund.
»Wenn ich zu ihm ginge«, schlug Anthony vor, »und ihm mit angemessenen Bibelzitaten sagte, ich sei zu lange auf dem Pfad der Sünde gewandelt und sähe nun endlich das Licht…« Er brach ab und warf seiner Frau einen wunderlichen Blick zu. »Wie er sich wohl verhalten würde?«
»Was weiß ich.«
Sie dachte nach, ob ihre Gäste wohl den Scharfsinn aufbringen würden, sich gleich nach dem Frühstück zu verabschieden.
Es dauerte eine ganze Woche, bis Anthony all seinen Mut zusammennahm und sich nach Tarrytown begab. Das Vorhaben drehte ihm den Magen um, und allein hätte er sich außerstande gesehen, die Fahrt anzutreten – doch im Laufe [365] der letzten drei Jahre hatte nicht nur seine Willensstärke nachgelassen, sondern ebenso auch seine Widerstandskraft, wenn ihm jemand zusetzte. Gloria zwang ihn, den Canossagang anzutreten. Eine Woche verstreichen zu lassen, gehe gerade noch an, meinte sie, denn das lasse seinem höchst erbitterten Großvater Zeit, sich abzukühlen – aber noch länger zu warten, sei ein Fehler, das verschaffe ihm nur Gelegenheit, sich weiter zu verhärten.
Er fuhr los, furchtgeplagt… und vergebens. Adam Patch befinde sich nicht wohl, richtete Shuttleworth ihm ungnädig aus. Es sei unmissverständliche Order erteilt worden, dass er für niemanden zu sprechen sei. Unter dem nachtragenden Blick des ehemaligen »Gin-Doktors« stürzte Anthonys Fassade in sich zusammen. Fast schlich er sich zum Taxi hinaus – und gewann erst dann ein wenig Selbstachtung zurück, als er in den Zug einstieg und sich bübisch darüber freute, in die gleißenden Zauberschlösser des Trostes fliehen zu können, die noch immer in seiner Vorstellung aufragten.
Gloria reagierte mit Verachtung, als er wieder in Marietta eintraf. Weshalb hatte er sich nicht mit Gewalt Eintritt verschafft? Das hätte sie getan!
Gemeinsam setzten sie einen Brief an den Alten auf, überarbeiteten ihn mehrfach und schickten ihn ab. Halb war er Entschuldigung, halb zusammengeschusterte Erklärung. Beantwortet wurde er nicht.
Im September kam ein Tag, ein Tag voller Regengüsse und
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