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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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wieder, die scheinbare Zwiesprache von Seele zu Seele, der Aufruhr der Gefühle. Sie brachte es fertig, Anthony einen vollen Tag lang zu hassen, eine ganze Woche lang ungerührt zornig auf ihn zu sein. In beider Gefühlshaushalt war die Zuneigung von wechselseitigen Vorwürfen verdrängt worden, die beinahe Unterhaltungswert angenommen hatten, und es gab Nächte, in denen sie einschlummerten, während sie sich darauf zu besinnen versuchten, wer von beiden verstimmt war und wer am folgenden Morgen eingeschnappt zu sein hatte. Und als das zweite Jahr zu Ende ging, hatten sich zwei neue Elemente eingeschlichen. Gloria wurde klar, dass Anthony ihr gegenüber zu völliger Gleichgültigkeit fähig geworden war, einer vorübergehenden, mehr auf Lethargie gegründeten Gleichgültigkeit, aus der sie ihn allerdings mit einem gewisperten Wort oder einem vertraulichen Lächeln nicht mehr hervorzulocken vermochte. An manchen Tagen wirkten ihre Liebkosungen auf ihn, als drohten sie ihn zu ersticken. Sie war sich dieser Veränderungen bewusst, wollte sie sich aber nie ganz eingestehen.
    Erst kürzlich war ihr aufgefallen, dass sie ihn, trotz ihrer Bewunderung für ihn, trotz ihrer Eifersucht, ihrer Unterwürfigkeit, ihres Stolzes, zutiefst verachtete – und ihre Verachtung vermischte sich unentwirrbar mit ihren anderen Empfindungen… All dies machte ihre Liebe aus – die kraftvolle weibliche Chimäre, die sich eines Aprilabends vor vielen Monden auf ihn geheftet hatte.
    Was Anthony anging, so war er, trotz all dieser [361] Einschränkungen, in Gedanken ausschließlich mit ihr beschäftigt. Hätte er sie verloren, so wäre er ein gebrochener Mann gewesen, für den Rest seines Lebens erbärmlich und rührselig in ihr Andenken versunken. Selten bereitete es ihm Vergnügen, einen ganzen Tag allein mit ihr zu verbringen – bis auf bestimmte Gelegenheiten zog er es vor, einen Dritten dabeizuhaben. Zuzeiten glaubte er, verrückt zu werden, wenn sie ihn nicht endlich in Ruhe ließ – einige wenige Male empfand er mit Sicherheit Hassgefühle. War er beschwipst, konnte es durchaus vorkommen, dass er sich von anderen Frauen angezogen fühlte – die bis dahin unterdrückten Auswüchse eines experimentierfreudigen Temperaments.
    In jenem Frühling, jenem Sommer hatten sie auf zukünftiges Glück gehofft – wie sie von Sommerland zu Sommerland reisen würden, sich schließlich auf einen herrlichen Landsitz, möglicherweise mit idyllischer Kinderschar, zurückziehen, dann in den diplomatischen Dienst eintreten oder sich in der Politik betätigen würden, um eine Zeitlang etwas Schönes und Wichtiges zu bewirken, bis sie sich schließlich als weißhaariges Paar (mit schönem, seidigem weißem Haar) in heiterem Ruhm ergehen würden, verehrt vom Bürgertum des Landes… Diese Zeiten sollten anheben, »wenn wir unser Geld bekommen«; ihre Hoffnungen beruhten eher auf derlei Träumereien als auf Zufriedenheit mit ihrem zunehmend ungeregelten, zunehmend zerfahrenen Leben. Im grauen Morgenlicht, wenn die Scherze der vorhergehenden Nacht zu Derbheiten ohne Witz und Würde zusammengeschnurrt waren, konnten sie dieses Bündel gemeinsamer Hoffnungen gewissermaßen hervorkramen und nachzählen, danach einander anlächeln und die Sache zum [362] Abschluss bringen, indem sie Glorias trotzigen Wahlspruch »Mir kann alles gestohlen bleiben!« mit seinem verknappten, aber aufrichtigen Nietzscheanismus wiederholten.
    Die Lage hatte sich spürbar verschlechtert. Da war die Geldfrage, zunehmend ärgerlich, zunehmend verhängnisvoll; da war die Einsicht, dass Alkohol für ihr Vergnügen praktisch unabdingbar geworden war – in der britischen Aristokratie vor hundert Jahren ein nicht ungewöhnliches Phänomen, in einer Zivilisation, die an Mäßigung und Umsicht stetig zunahm, jedoch leicht beunruhigend. Außerdem schienen beide irgendwie weniger strapazierfähig, nicht so sehr in dem, was sie taten, als in ihren feinsinnigen Reaktionen auf ihre kulturelle Umgebung. In Gloria hatte etwas lebendige Gestalt angenommen, das sie bis dahin nie benötigt hatte – das zwar unfertige, aber doch nicht zu verkennende Skelett einer Instanz, die sie früher zutiefst verabscheut hatte: ein Gewissen. Das Eingeständnis ging mit einem allmählichen Abbau ihrer körperlichen Beherztheit einher.
    Dann, am Augustmorgen nach dem unerwarteten Besuch von Adam Patch, wachten sie auf, fühlten sich elend, müde und ohne Lebensmut, fähig nur zu einem alles durchdringenden Gefühl

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