Die Schönen und Verdammten
Schmutzwäsche.
»Ich mag diese Straßen«, bemerkte Anthony vernehmlich. »Ich habe das Gefühl, als sei es eine Darbietung mir zu Ehren; als würden sie alle aufhören, zu laufen und zu lachen, sobald ich vorübergefahren bin, als würden sie sich statt dessen tieftraurig ihrer Armut erinnern und mit gesenktem Kopf in ihre Behausungen zurückziehen. Im [369] Ausland gewinnt man diesen Eindruck öfter, aber nur selten im eigenen Land.«
In einer breiten, belebten Straße entzifferte er an einer Ladenzeile ein gutes Dutzend jüdischer Namen; in jeder Ladentür stand ein dunkelhaariger kleiner Mann, der die Passanten aus aufmerksamen Augen musterte – Augen, die vor Misstrauen, Stolz und Klarsicht, vor Begierde und Verständnis glühten. New York – der allmähliche, der schleichende Aufstieg dieser Leute war nicht mehr zu übersehen: Die kleinen Geschäfte, die da wuchsen, expandierten, sich konsolidierten und verlegt wurden, gehütet mit Argusaugen und einer bienenhaften Aufmerksamkeit fürs Detail – sie breiteten sich aus nach allen Seiten. Es war schon imposant– genaugenommen war es ungeheuerlich.
Auf merkwürdig angemessene Art unterbrach Glorias Stimme seinen Gedankengang.
»Wo Bloeckman sich wohl diesen Sommer herumgetrieben hat?«
Das Apartment
Nach der Jugend mit ihren Gewissheiten setzt eine Zeit angespannter und unerträglicher Verwicklungen ein. Bei einem Barmixer in einer Eisdiele ist diese Periode so kurz, dass man sie beinahe außer Acht lassen kann. Männer auf höherer Gesellschaftsstufe dagegen halten länger durch bei dem Versuch, sich die letzten Annehmlichkeiten einer Beziehung zu bewahren und »unpraktische« Vorstellungen von Integrität beizubehalten. Doch Ende der Zwanziger wird die [370] Angelegenheit zu vertrackt, und was bis dahin bedrohlich und verwirrend wirkte, wird stufenweise schwächer und verschwommener. Auf die Beziehung legt sich, wie Dämmerung auf eine rauhe Landschaft, die Routine und dämpft alles so weit, bis es erträglich wird. Die Verwicklungen sind zu heikel, zu mannigfaltig; mit jeder Minderung der Lebenskraft verändern sich radikal unsere Wertvorstellungen; allmählich hat es den Anschein, als könnten wir aus der Vergangenheit nichts lernen, was uns helfen würde, der Zukunft ins Auge zu sehen – so hören wir denn auf, impulsive, empfindsame Männer zu sein, an feinen Verästelungen sittlicher Wahrheit interessiert; tauschen unsere Vorstellungen von Integrität gegen Verhaltensregeln aus; schätzen Sicherheit höher als die Liebe; werden – ganz unbewusst – Pragmatiker. Es bleibt einigen wenigen überlassen, sich nachhaltig mit den Nuancen von Beziehungen zu befassen – und selbst diese wenigen tun es nur zu bestimmten Stunden, die eigens dieser Aufgabe vorbehalten bleiben.
Anthony Patch hatte aufgehört, ein Individuum des geistigen Abenteuers, der Wissbegierde zu sein, und war zu einem Individuum des Vorurteils und der Voreingenommenheit geworden; es verlangte ihn danach, sich gefühlsmäßig durch nichts mehr erschüttern zu lassen. Dieser allmähliche Wandel war die letzten paar Jahre über eingetreten und von einer Reihe Sorgen beschleunigt worden, die an ihm nagten. Da war zunächst einmal das noch stets in seinem Herzen schlummernde und nun durch seine Lebensumstände wachgerufene Gefühl des Aasens. In Augenblicken der Unsicherheit wurde er von der Vorstellung gequält, das Leben habe immerhin doch einen Sinn. In seinen frühen Zwanzigern [371] hatten die von ihm bewunderten Philosophien ebenso wie sein Umgang mit Maury Noble, später mit seiner Frau, in ihm die Überzeugung von der Vergeblichkeit allen Strebens, von der Weisheit der Entsagung gefestigt. Freilich hatte es– zum Beispiel kurz vor seiner ersten Begegnung mit Gloria und damals, als sein Großvater ihm vorgeschlagen hatte, als Kriegsberichterstatter ins Ausland zu gehen – Anlässe gegeben, bei denen ihn seine Unzufriedenheit beinahe zu einem positiven Schritt veranlasst hätte.
Als er am Vortag ihres Wegzugs aus Marietta flüchtig in einem Harvard Alumni Bulletin blätterte, war er auf eine Kolumne gestoßen, der er entnahm, was seine Kommilitonen in den sechs Jahren seit ihrem Abschlussexamen getrieben hatten. Zugegeben, die meisten von ihnen waren Geschäftsleute geworden, und einige bekehrten die Heiden in China oder Amerika zu einem nebulösen Protestantismus; doch wie er nachlesen konnte, arbeiteten ein paar durchaus schöpferisch in Stellungen, die weder Sinekuren noch
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