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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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denn in ihr waren Seele und Geist eins – die Schönheit ihres Leibes war das Wesen ihrer Seele. Sie war jene Einheit, nach der die Philosophen viele Jahrhunderte lang gesucht hatten. In diesem Wartesaal von Wind und Sternen saß sie seit hundert Jahren und fand Frieden in der Betrachtung ihrer selbst.
    Schließlich erfuhr sie, dass sie wiedergeboren werden sollte. Seufzend begann sie ein langes Gespräch mit einer Stimme, die der weiße Wind zu ihr hintrug, ein Gespräch, das viele Stunden währte und von dem ich hier nur ein Bruchstück wiedergeben kann.
    SCHÖNHEIT bewegt kaum die Lippen und hält den Blick wie stets nach innen gekehrt Wohin soll ich denn jetzt schon wieder reisen?
    DIE STIMME In ein neues Land – ein Land, in dem du noch nie gewesen bist.
    SCHÖNHEIT bockig Ich hasse es, in diese neuen Zivilisationen hineinzuplatzen. Wie lange muss ich diesmal bleiben?
    DIE STIMME Fünfzehn Jahre.
    SCHÖNHEIT Und wie heißt der Ort?
    DIE STIMME Es ist das wohlhabendste, herrlichste Land auf Erden – ein Land, in dem die Klügsten nur um ein [44] weniges klüger sind als die Dümmsten; ein Land, wo die Regierenden den Verstand kleiner Kinder haben und die Gesetzgeber an den Weihnachtsmann glauben; wo hässliche Frauen starke Männer beherrschen…
    SCHÖNHEIT erstaunt Was?
    DIE STIMME äußerst bedrückt Ja, wahrhaftig ein Anblick, der schwermütig stimmt. Frauen mit fliehendem Kinn und unförmiger Nase laufen bei helllichtem Tage umher und sagen: »Tu dies!« und »Tu das!«, und sämtliche Männer, selbst diejenigen, die über großen Reichtum verfügen, folgen bedingungslos ihren Frauen, die sie klangvoll als »Mrs. Soundso« oder als »meine Alte« bezeichnen.
    SCHÖNHEIT Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ihren Gehorsam gegen Frauen mit gewissen Reizen kann ich natürlich verstehen – aber gegen dicke Frauen? Magere Frauen? Frauen mit knochigen Wangen?
    DIE STIMME Aber so ist es.
    SCHÖNHEIT Und was ist mit mir? Was für Chancen werde ich haben?
    DIE STIMME Es wird eine ganz schöne Schinderei werden, wenn ich mich so ausdrücken darf.
    SCHÖNHEIT nach einer Pause Warum nicht die alten Länder, das Land der Trauben und der sanftzüngigen Männer oder das Land der Schiffe und Meere?
    DIE STIMME Man nimmt an, dass sie bald alle Hände voll zu tun haben.
    SCHÖNHEIT Oh!
    DIE STIMME Dein Leben auf Erden wird sich wie immer in der Zeitspanne zwischen zwei bedeutungsschweren Blicken in einen schlichten Spiegel abspielen.
    [45] SCHÖNHEIT Als was werde ich auftreten? Sag’s mir!
    DIE STIMME Zunächst hat man sich gedacht, dass du diesmal als Filmschauspielerin gehen würdest, aber das ist nach alledem nicht ratsam. Während deiner fünfzehn Jahre wirst du dich als sogenannte ›junge Dame der gehobenen Gesellschaft‹ verkleiden.
    SCHÖNHEIT Was ist das?
    Im Wind ist ein neues Geräusch zu hören, das für unsere Zwecke so gedeutet werden muss: DIE STIMME kratzt sich am Kopf.
    DIE STIMME endlich Eine Art unechter Aristokratin.
    SCHÖNHEIT Unecht? Was heißt unecht?
    DIE STIMME Auch das wirst du in diesem Land entdecken. Du wirst auf vieles stoßen, das unecht ist. Auch wirst du vieles tun, das unecht ist.
    SCHÖNHEIT selbstgefällig Das alles klingt so vulgär.
    DIE STIMME Nicht halb so vulgär, wie es ist. Während deiner fünfzehn Jahre wird man dich Ragtime-Kid nennen, Flapper, Jazz-Baby und Baby-Vamp. Du wirst die neuen Tänze weder graziöser noch ungraziöser tanzen als die alten.
    SCHÖNHEIT flüsternd Werde ich bezahlt?
    DIE STIMME Ja, wie gewöhnlich – mit Liebe.
    SCHÖNHEIT mit einem leisen Lachen, das die Unbeweglichkeit ihrer Lippen nur flüchtig beeinträchtigt Und werde ich mich gerne Jazz-Baby nennen lassen?
    DIE STIMME nüchtern Sehr gerne…
    Hier endet das Zwiegespräch. SCHÖNHEIT sitzt noch immer ruhig da. Die Sterne verharren in einem Taumel der Begeisterung, der Wind, weiß und böig, durchweht ihr Haar.
    [46] All dies fand statt, sieben Jahre bevor ANTHONY am Wohnzimmerfenster seines Apartments saß und auf das Glockengeläut von St. Anne’s lauschte.

[47] Porträt einer Sirene
    Einen Monat später war New York in eisige Frische ein gehüllt; und mit ihr kamen November, die drei großen Football-Spiele und ein großes Flattern von Pelzmänteln auf der Fifth Avenue. Außerdem bescherte sie der Stadt ein Gefühl von Spannung und unterdrückter Erregung. Jeden Morgen fand Anthony Einladungen in der Post. Drei Dutzend tugendsamer Frauen der ersten Garnitur gaben ihre Eignung, wenn auch

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