Die Schönen und Verdammten
In der Tat traf er nur selten überhaupt irgendwelche Entscheidungen, und wenn doch, so waren es lediglich halb hysterische Vorsätze, gefasst in der Schreckenssekunde eines unheilbar bösen Erwachens.
Die besondere Schwäche, welcher er bei dieser Gelegenheit nachgab, war sein Bedürfnis nach Erregung und nach Ansporn von außen. Er hatte das Gefühl, sich zum ersten Mal seit vier Jahren neu ausdrücken und deuten zu können. Das Mädchen verhieß ihm Ruhe; die allabendlich in ihrer Begleitung verbrachten Stunden linderten das morbide und unweigerlich ergebnislose Pochen seiner Einbildungskraft. Er war ein richtiger Feigling geworden – ganz der Sklave von hundert ungeordnet umherschweifenden Gedanken, die durch den Zusammenbruch des wichtigsten Kerkermeisters seines Ungenügens – seiner aufrichtigen Hingabe an Gloria – freigesetzt worden waren.
Als sie an diesem ersten Abend vor dem Tor standen, hatte er Dorothy geküsst und sich mit ihr für den [421] kommenden Samstag verabredet. Dann war er zum Lager hinausgefahren und hatte im Schein der Lampe, die vorschriftswidrig in seinem Zelt brannte, einen langen Brief an Gloria geschrieben, einen glühenden Brief, voll von sentimentalem Dunkel, von dem erinnerten Duft der Blumen, von wahrhaftiger und überfließender Zärtlichkeit – all dies hatte er für einen Augenblick wieder erlernt: durch einen erst eine Stunde zuvor im vollen, warmen Licht des Mondes getauschten Kuss.
Am Samstagabend wartete Dot schon am Eingang des Bijou-Lichtspieltheaters auf ihn. Wie am vorangegangenen Mittwoch trug sie ihr lila Kleid aus zartestem Organdy, doch war es offenbar seitdem gewaschen und gestärkt worden, denn es sah frisch und unzerknittert aus. Bei Tageslicht bestätigte sich sein erster Eindruck: auf unvollkommene, mangelhafte Weise war sie entzückend – adrett. Ihre Gesichtszüge waren schmal und unregelmäßig, aber ausdrucksvoll und in sich stimmig. Sie war eine dunkle, delikate kleine Blume – dennoch vermeinte er, in ihr Spuren einer spirituellen Zurückhaltung zu entdecken, einer Kraft, die sie aus der passiven Hinnahme alles Gegebenen bezog. Darin sollte er sich täuschen.
Dorothy Raycroft war neunzehn. Ihr Vater hatte einen kleinen, schlecht gehenden Eckladen unterhalten, und zwei Tage vor seinem Tod war sie, im untersten Viertel ihrer Klasse, von der Highschool abgegangen. In der Schule hatte sie einen eher zweifelhaften Ruf genossen. Dabei war ihr Betragen während des Klassenfests, von dem die Gerüchte ihren Ausgang nahmen, lediglich unschicklich gewesen – [422] genaugenommen hatte sie ihre Unschuld erst mehr als ein Jahr danach verloren. Der Junge war Verkäufer in einem Geschäft in der Jackson Street gewesen und hatte sich am Tag nach dem Zwischenfall überraschend nach New York abgesetzt. Er hatte schon längere Zeit vorgehabt wegzugehen, bis zum Vollzug seines Liebesglücks aber gezaudert.
Nach einer Weile vertraute sie das Abenteuer einer Freundin an, und als sie diese später die schläfrige, in staubigen Sonnenschein getauchte Straße hinuntergehen sah, wurde ihr blitzartig klar, dass ihre Geschichte in die Welt hinausdringen würde. Doch nun, da sie sie erzählt hatte, fühlte sie sich viel besser, wenn auch etwas verbittert, und indem sie die entgegengesetzte Richtung einschlug und in der ehrlichen Absicht, sich wieder in Gunst zu setzen, mit einem anderen Mann anbändelte, bewies sie so viel Charakter, wie ihr zu Gebote stand. In der Regel stießen Dot Dinge zu. Schwach war sie nicht, weil es nichts in ihr gab, das ihr sagte, sie sei schwach. Stark war sie nicht, weil sie nicht wusste, dass einiges von dem, was sie tat, tapfer war. Sie widersetzte sich nicht, passte sich nicht an und schloss keine Kompromisse.
Sie hatte keinen Sinn für Humor, statt dessen aber eine fröhliche Veranlagung, in Gegenwart von Männern zum passenden Zeitpunkt zu lachen. Feste Pläne hatte sie nicht – manchmal bedauerte sie leise, dass ihr Ruf ihr jede Chance nahm, Geborgenheit zu finden. Es war nicht offen zur Sprache gekommen; ihre Mutter war lediglich daran interessiert, sie jeden Morgen beizeiten in das Juweliergeschäft zu schicken, wo sie vierzehn Dollar die Woche verdiente. Einige der Jungen aber, die sie von der High-School her kannte, [423] schauten weg, wenn sie mit »netten Mädchen« zusammen waren, und solche Vorfälle verletzten ihre Gefühle. Dann ging sie nach Hause und weinte sich aus.
Außer dem Verkäufer aus der Jackson Street hatte es
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