Die Schönen und Verdammten
war.
»Guten Tag«, sagte er.
Ihre Augen waren weich wie Schatten. Waren sie violett, oder war es ihr blaues Dunkel, das sich mit den grauen Tönen der Dämmerung vermischte?
»Angenehmer Abend«, tastete sich Anthony unsicher vor.
»Und ob«, sagte das zweite Mädchen.
»Kein sehr angenehmer Abend für Sie«, seufzte das Mädchen in Lila. Ihre Stimme schien ebenso Teil der Nacht zu sein wie die schläfrige Brise, die ihre breite Hutkrempe kräuselte.
»Er musste die Gelegenheit nutzen, sich aufzuspielen«, sagte Anthony mit abfälligem Lachen.
»Ich denke auch«, pflichtete sie ihm bei.
Sie bogen um die Ecke und schlenderten lässig eine Seitenstraße hinauf, als folgten sie einem schwebenden Seil, an das sie gefesselt waren. In dieser Stadt schien es das Natürlichste von der Welt, so um die Ecke zu biegen, nirgendwohin unterwegs zu sein, an nichts zu denken… Die Seitenstraße war dunkel, eine plötzliche Abzweigung in ein Viertel mit Heckenrosen und kleinen, stillen Häusern, die weitab von der Straße standen.
»Wohin gehen Sie?«, erkundigte er sich höflich.
»Einfach nur so.« Die Antwort war eine Entschuldigung, eine Frage, eine Erklärung.
[418] »Darf ich mit Ihnen spazieren?«
»Meinetwegen.«
Es war günstig, dass sie einen anderen Akzent hatte. Den gesellschaftlichen Rang einer Südstaatlerin hätte er nicht an ihrer Redeweise festmachen können – in New York hätte ein Mädchen aus der Unterschicht, wenn nicht durch die rosarote Brille des Rausches betrachtet, unerträglich grob gewirkt.
Die Dunkelheit kroch heran. Sie sprachen wenig – Anthony fragte sorglos und beiläufig, die beiden antworteten mit den sparsamen Wendungen und Refrains der Provinz. So schlenderten sie um eine weitere Ecke und um eine dritte. Auf halbem Wege hielten sie unter einem Laternenpfahl an.
»Ich wohne hier«, erklärte das andere Mädchen.
»Ich wohne um die Ecke«, sagte das Mädchen in Lila.
»Darf ich Sie nach Hause bringen?«
»Bis zur Ecke, wenn Sie möchten.«
Das andere Mädchen trat einige Schritte zurück. Anthony lüftete seine Uniformmütze.
»Sie sollen doch salutieren«, sagte das Mädchen in Lila lachend. »Alle Soldaten hier salutieren.«
»Ich werd’s schon noch lernen«, erwiderte er nüchtern.
Das andere Mädchen sagte: »Also dann…«, zögerte und setzte hinzu: »Ruf mich morgen an, Dot.« Dann zog sie sich aus dem gelben Lichtkegel der Straßenlaterne zurück. Daraufhin liefen Anthony und das Mädchen in Lila schweigend die drei Blocks entlang zu dem kleinen, baufälligen Haus, in dem sie wohnte. Vor dem hölzernen Gartentor zögerte sie.
[419] »Also dann – danke.«
»Müssen Sie denn schon so früh hineingehen?«
»Eigentlich schon.«
»Können Sie nicht noch ein bisschen weiterspazieren?«
Sie musterte ihn leidenschaftslos.
»Ich kenne Sie doch nicht einmal.«
Anthony lachte. »Es ist noch nicht zu spät.«
»Ich glaube, ich gehe lieber hinein.«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht zurückgehen und uns einen Film ansehen.«
»Ich würde ja gern.«
»Danach könnte ich Sie nach Hause bringen. Dafür hätte ich gerade noch Zeit.«
Inzwischen war es so dunkel, dass er sie kaum sehen konnte. Sie war ein Kleid, das der Wind unendlich leicht bauschte, zwei klare, unbekümmerte Augen.
»Warum kommen Sie nicht mit – Dot? Gehen Sie nicht gern ins Kino? Kommen Sie doch mit.«
Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«
Sie gefiel ihm, und er merkte, dass sie Zeit gewinnen wollte, um ihm Eindruck zu machen. Er trat näher und nahm ihre Hand.
»Auch nicht, wenn wir um zehn zurück sind? Nur ins Kino?«
»Na schön – meinetwegen…«
Hand in Hand gingen sie zurück zur Stadt, eine dunstige, dämmrige Straße entlang, in der ein schwarzer Zeitungsverkäufer im hergebrachten Singsang der örtlichen Höker die Schlagzeile einer Sonderausgabe ausrief – ein Singsang, melodisch wie ein Lied.
[420] Dot
Anthonys Affäre mit Dot war das unvermeidbare Ergebnis einer zunehmenden Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber. Er ging nicht zu ihr, weil er begehrte, das Begehrenswerte zu besitzen, anders als vier Jahre zuvor bei Gloria verfiel er auch nicht einer Persönlichkeit, die vitaler und unwiderstehlicher als die seine war. Er schlitterte einfach durch seine Unfähigkeit, sich klar zu entscheiden, in die Sache hinein. Weder bei einem Mann noch bei einer Frau konnte er »Nein!« sagen; Wucherer und Versucherin fanden ihn gleichermaßen willensschwach und nachgiebig.
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