Die Schönen und Verdammten
sie sich in einem höchst nervösen Zustand. Sie hatte sich innen auf die Lippen gebissen, bis sie wund waren und schmerzten, und als sie ihren Mund mit Listerin auswusch, brannten sie unerträglich. Mit Anthony hatte sie sich so anhaltend gestritten, dass er in kalter Wut aus dem Apartment gestürmt war. Da ihn ihre außergewöhnliche Kälte jedoch einschüchterte, rief er sie eine Stunde später an, entschuldigte sich und sagte, er werde im Amsterdam Club zu Abend essen, dem einzigen Klub, dessen Mitglied er noch war.
Es war nach ein Uhr, und sie hatte erst um elf gefrühstückt, daher beschloss sie, auf das Mittagessen zu verzichten und im Park einen Spaziergang zu machen. Um drei Uhr würde die Post kommen. Um drei Uhr würde sie zurück sein.
Es war ein Vorfrühlingsnachmittag. Auf den Wegen trocknete das Regenwasser, und im Park schoben kleine Mädchen gravitätisch weiße Puppenwagen unter den dürren Bäumen auf und ab. Ihnen folgten jeweils zu zweien gelangweilte Kindermädchen, die miteinander jene ungeheuren Geheimnisse besprachen, die Kindermädchen eigen sind.
Auf ihrer kleinen goldenen Armbanduhr war es zwei Uhr. Sie brauchte eine neue Uhr, eine mit einem Rechteck aus Platin, mit Diamanten besetzt – aber die kosteten noch mehr als Mäntel aus grauem Feh und waren wie alles andere längst unerschwinglich – es sei denn, dass der richtige Brief auf sie wartete… in etwa einer Stunde… in genau achtundfünfzig Minuten. Zehn Minuten Rückweg – blieben noch achtundvierzig… siebenundvierzig…
[521] Kleine Mädchen, die nüchtern ihre Puppenwagen über die feuchten, sonnigen Wege schoben. Zu zweien plapperten die Kindermädchen über ihre unerforschlichen Geheimnisse. Hier und da saß auf Zeitungen, über eine trocknende Bank gebreitet, ein zerlumpter Mann und fühlte sich nicht dem strahlenden, entzückenden Nachmittag verwandt, sondern dem schmutzigen Schnee, der erschöpft in dunklen Winkeln schlummerte und auf sein Ende harrte…
Als sie Ewigkeiten später in das düstere Foyer trat, sah sie den Liftjungen aus Martinique unpassend im Licht des Buntglasfensters stehen.
»Gibt es Post für uns?«, fragte sie.
»Oben, Madame.«
Die Schalttafel fiepte grässlich, und Gloria musste warten, bis er einen Anruf entgegengenommen hatte. Als der Aufzug stöhnend nach oben glitt, wurde ihr übel – die Stockwerke bewegten sich wie langsam verstreichende Jahrhunderte an ihr vorbei, jedes einzelne unheildrohend, vorwurfsvoll, hochbedeutsam. Der Brief, ein weißer, aussätziger Fleck, lag auf den schmutzigen Fliesen der Diele…
Meine liebe Gloria,
die Probeaufnahme haben wir gestern Nachmittag ablaufen lassen, aber Mr. Debris scheint der Meinung zu sein, dass er für die Rolle, die er im Sinn hat, eine jüngere Frau braucht. Er sagt, die schauspielerische Leistung selbst sei nicht übel gewesen, und es gebe eine kleine Nebenrolle, eine sehr hochnäsige reiche Witwe, von der er meint, dass Sie…
[522] Niedergeschlagen hob Gloria den Blick, bis sie über den Hof hinwegblickte. Aber sie merkte, dass sie die gegenüberliegende Mauer nicht erkennen konnte, weil in ihren grauen Augen Tränen standen. Den zerknüllten Brief fest in der Hand, ging sie ins Schlafzimmer und sank vor dem langen Spiegel der Garderobe in die Knie. Es war ihr neunundzwanzigster Geburtstag, und vor ihren Augen zerschmolz die Welt. Sie versuchte zu denken, dass es am Make-up gelegen hatte, aber ihre Gefühle waren zu tief, zu überwältigend für den Trost, den der Gedanke ihr vermittelte.
Sie strengte ihre Augen so sehr an, dass sie spürte, wie sich die Haut an ihren Schläfen straffte. Ja – die Wangen waren hohl, die Augenwinkel von winzigen Krähenfüßen gesäumt. Die Augen waren anders. Ja, sie waren anders!… Und plötzlich wusste sie, wie müde ihre Augen waren.
»Ach, mein hübsches Gesicht«, wisperte sie voll leidenschaftlicher Trauer. »Ach, mein hübsches Gesicht! Ach, ich möchte nicht leben ohne mein hübsches Gesicht! Ach, was ist nur geschehen?«
Dann glitt sie auf den Spiegel zu, warf sich wie bei der Probeaufnahme mit dem Gesicht nach unten zu Boden – und blieb schluchzend liegen. Es war die erste wirklich unbeholfene Bewegung, die sie je gemacht hatte.
[523] Keine Fragen mehr!
Binnen eines Jahres waren Anthony und Gloria zu Schauspielern geworden, denen die Kostüme abhanden gekommen sind und denen es an Stolz mangelt, weiterhin den Tragöden zu mimen. Als Mrs. und Miss Hulme aus Kansas City sie
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