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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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eines Abends im Plaza ignorierten, lag es daran, dass Mrs. und Miss Hulme wie die meisten Menschen Spiegelbilder ihres atavistischen Ichs verabscheuten.
    Ihr neues Apartment, für das sie fünfundachtzig Dollar im Monat zahlten, lag in der Claremont Avenue, zwei Blocks vom Hudson River entfernt im düsteren Hunderter-Bereich. Dort hatten sie einen Monat lang gewohnt, als an einem Spätnachmittag Muriel Kane zu Besuch kam.
    Es herrschte eine untadelig frühlingshafte, ja beinahe sommerliche Abenddämmerung. Anthony lag auf dem Sofa und schaute die 127. Straße hinauf zum Fluss, in dessen Nähe er eben noch eine einzige Gruppe hellgrüner Bäume ausmachen konnte, die die prächtige Schattigkeit des Riverside Drive verbürgten. Auf der anderen Uferseite befanden sich die Palisades, gekrönt vom hässlichen Maßwerk des Vergnügungsparks – doch bald würde es dunkeln, und dieselben eisernen Spinnweben würden sich leuchtend gegen den Himmel abzeichnen, ein über dem weichen Glanz eines tropischen Kanals thronender verwunschener Palast.
    [524] Die Straßen in der Nähe des Apartments waren, wie Anthony herausgefunden hatte, Straßen, auf denen Kinder spielten – etwas hübscher als diejenigen, an denen er früher immer auf dem Weg nach Marietta vorbeigekommen war, aber doch von der gleichen Art. Hin und wieder spielte eine Drehorgel oder Bettlerleier, und in der Kühle des Abends liefen viele junge Mädchen paarweise zum Eckladen, kauften Sodawasser mit Speiseeis und gaben sich unter dem niedrigen Himmel uneingeschränkten Träumereien hin.
    Jetzt war es dunkel in den Straßen, die spielenden Kinder stießen unverständliche Worte der Begeisterung aus, die vor dem geöffneten Fenster verhallten – und Muriel, die Glorias wegen gekommen war, plauderte mit ihm aus dem undurchdringlichen Dunkel am anderen Ende des Zimmers.
    »Wollen wir nicht Licht machen?«, schlug sie vor. »Es wird ja richtig gespenstisch.«
    Folgsam erhob er sich mit einer müden Bewegung; die grauen Fensterscheiben verschwanden. Er reckte sich. Er war schwerer, sein Bauch drückte leicht gegen seinen Gürtel; sein Leib war weicher geworden und hatte sich ausgedehnt. Er zählte jetzt zweiunddreißig Jahre, und sein Gemüt war ein Wrack, düster und chaotisch.
    »Magst du was trinken, Muriel?«
    »Ich nicht, danke nein. Ich trinke nicht mehr. Was treibst du denn so, Anthony?«, erkundigte sie sich neugierig.
    »Na ja, ich hab ziemlich viel mit dieser Klage zu tun«, erwiderte er gleichmütig. »Sie kommt vors Berufungsgericht – bis zum Herbst dürfte sie zugunsten von wem auch immer entschieden sein. Es hat Einwendungen gegeben, ob [525] das Appellationsgericht in dieser Angelegenheit überhaupt zuständig ist.«
    Muriel schnalzte mit der Zunge und neigte den Kopf zur Seite.
    »Denen würde ich aber Bescheid sagen! Ich hab noch nie erlebt, dass etwas dermaßen lang gedauert hat.«
    »Ach, die brauchen alle so lange«, entgegnete er lustlos, »alle Testamentsangelegenheiten. Dass eine in weniger als vier oder fünf Jahren entschieden wird, soll die Ausnahme sein.«
    »Oh…« Wagemutig schlug Muriel einen anderen Kurs ein. »Warum arbeitest du eigentlich nicht, du Faulpelz?«
    »Was denn?«, fragte er scharf.
    »Na, irgendwas eben. Du bist doch noch ein junger Mann.«
    »Wenn das eine Ermutigung sein soll, bin ich dir sehr verbunden«, antwortete er trocken – und fügte mit unvermittelter Mattigkeit an: »Stört es dich etwa, dass ich nicht arbeiten will?«
    »Mich nicht – aber eine Menge anderer Leute, die behaupten…«
    »O Gott!«, sagte er niedergeschlagen. »Mir scheint, seit drei Jahren höre ich nichts als wilde Geschichten über mich und tugendhafte Ermahnungen. Ich bin’s leid. Wenn du uns nicht mehr besuchen willst, dann lass uns in Frieden. Ich belästige meine früheren ›Freunde‹ ja auch nicht. Aber ich brauche keine Höflichkeitsvisiten und keine als gute Ratschläge verbrämte Kritik…« Dann fügte er entschuldigend an: »Es tut mir leid – aber du darfst wirklich nicht wie eine Fürsorgerin daherreden, Muriel, auch dann nicht, wenn du [526] die untere Mittelschicht aufsuchst.« Vorwurfsvoll wandte er ihr seine blutunterlaufenen Augen zu – Augen, die früher einmal von einem tiefen, klaren Blau gewesen waren, jetzt aber, wo er trank, blass, angestrengt und halb verdorben vom Lesen waren.
    »Wie kannst du nur so etwas Schlimmes sagen?«, protestierte sie. »Du redest ja gerade so, als gehörtet ihr, Gloria und du, zur

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