Die Schönen und Verdammten
nüchtern, verhielt er sich ihr gegenüber höflich, zuweilen sogar zärtlich; für kurze Stunden schien er eine Spur jener alten Eigenschaft aufzuweisen – dass er nur zu gut verstand, um Vorwürfe zu machen –, jener Eigenschaft, die das Beste an ihm war und die ihn rasch und unaufhaltsam ins Verderben getrieben hatte.
Aber er hasste es, nüchtern zu sein. Das brachte ihm die Menschen um ihn her zum Bewusstsein, die Atmosphäre der [538] Anstrengung, des gierigen Ehrgeizes, einer Hoffnung, die erbärmlicher war als Verzweiflung, der unablässigen Mobilität nach oben und nach unten, die sich in jeder Metropole am stärksten in der labilen Mittelschicht bemerkbar macht. Unfähig, unter den Reichen zu leben, bildete er sich ein, seine zweite Wahl wäre es gewesen, unter den ganz Armen zu leben. Alles war besser als dieser Kelch von Schweiß und Tränen.
Anthonys noch nie sonderlich stark ausgeprägtes Interesse für das ungeheure Panorama des Lebens war so schwach geworden, dass es fast ganz erlosch. Hin und wieder erregte ein Vorfall, eine Geste Glorias sein Gefallen – doch ein grauer Schleier hatte sich jetzt ernstlich über ihn gebreitet. In dem Maße, wie er älter wurde, verblassten diese Dinge – dafür gab’s den Wein.
Ein Rausch hatte etwas Freundliches – er verlieh unbeschreiblichen Glanz und Glamour, wie die Erinnerungen an kurzlebige, verblasste Abende. Nach ein paar Highballs lag ein Zauber in der hohen, glühenden arabischen Nacht des Bush Terminal Building – seine Spitze war ein Gipfel schierer Pracht, golden und verträumt vor dem unzugänglichen Himmel. Und die krude, banale Wall Street – auch sie war ein Triumph des Goldes, ein herrliches Gefühlsschauspiel; hier verwahrten die großen Könige das Geld für ihre Kriege…
Die Frucht der Jugend oder die der Rebe, der flüchtige Zauber des kurzen Übergangs von Dunkel zu Dunkel – die alte Illusion, dass Wahrheit und Schönheit auf irgendeine Weise miteinander verknüpft seien.
[539] Als er eines Abends vor dem Delmonico’s stehenblieb, um sich eine Zigarette anzuzünden, sah er zwei Hansoms, die dicht am Bordstein standen und auf einen allfälligen betrunkenen Fahrgast warteten. Die altmodischen Droschken waren verschlissen und schmutzig – das rissige Lackleder verrunzelt wie das Gesicht eines alten Mannes, die Kissen zu einem bräunlichen Lavendel ausgebleicht; die Pferde selbst alt und lendenlahm, ebenso die weißhaarigen Männer, die auf dem Kutschbock saßen und mit grotesk übertriebenem Heldenmut ihre Peitschen knallen ließen. Ein Relikt untergegangener Fröhlichkeit!
In einem plötzlichen Anfall von Depression ging Anthony Patch davon und bedachte, wie bitter es war, auf solche Weise zu überleben. Ihm schien, dass es nichts gab, was so rasch schal wurde wie das Vergnügen.
Eines Nachmittags begegnete er auf der 42. Straße zum ersten Mal seit vielen Monaten Richard Caramel, einem blühenden, fülliger gewordenen Richard Caramel, dessen Gesicht voller war und der Bostoner Stirn entsprach.
»Bin diese Woche erst von der Küste gekommen. Wollte dich anrufen, wusste aber deine Anschrift nicht.«
»Wir sind umgezogen.«
Richard Caramel bemerkte, dass Anthony ein beschmutztes Hemd trug, dass seine Manschetten leicht, aber doch sichtlich ausgefranst waren, dass er halbmondförmige Tränensäcke von der Farbe des Zigarettenrauchs unter den Augen hatte.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte er und fixierte seinen Freund mit seinem hellgelben Auge. »Aber wo ist Gloria, [540] und wie geht’s ihr? Mein Gott, Anthony, selbst drüben in Kalifornien habe ich die gottverdammtesten Geschichten über euch zwei gehört – und als ich wieder nach New York komme, stelle ich fest, dass ihr völlig abgetaucht seid. Warum reißt ihr euch nicht zusammen?«
»Jetzt hör mir aber mal zu«, plapperte Anthony mit schwankender Stimme, »ich vertrage keine lange Standpauke. Wir haben links und rechts Geld verloren, und natürlich haben die Leute getratscht – wegen der Klage, aber diesen Winter wird die Sache bestimmt endgültig entschieden…«
»Du redest so schnell, dass ich dich nicht verstehen kann«, unterbrach ihn Dick gelassen.
»Ich hab alles gesagt, was es zu sagen gibt«, schnauzte Anthony. »Komm und besuch uns, wenn du magst – oder lass es bleiben!«
Damit machte er kehrt und schickte sich an, in der Menschenmenge zu verschwinden, aber Dick holte ihn sofort ein und packte ihn am Arm.
»He, Anthony, nun fahr doch nicht gleich
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