Die Schönen und Verdammten
Tages – am frühen Nachmittag – hatte sie sich daran delektiert, mit weit aufgesperrten Nasenlöchern den Broadway von Harlem, die 125. Straße, entlangzulaufen, um die vielen Gerüche aufzunehmen, hingerissen von der außerordentlichen Schönheit einiger italienischer Kinder. Es mutete sie sonderbar an – so wie einst die Fifth Avenue auf sie gewirkt hatte, damals, als sie mit der gefälligen Zuversicht einer Schönheit gewusst hatte, dass all dies ihr gehörte, jeder Laden und alles, was er enthielt, jedes Erwachsenenspielzeug, das im Schaufenster glitzerte, dass alles mühelos zu haben war. Hier in der 125. Straße gab es die Kapellen der Heilsarmee und in regenbogenfarbene Tücher gehüllte alte Damen auf Türstufen und klebriges Zuckerwerk in den Schmutzhänden von Kindern mit glänzendem Haar – und die untergehende Sonne, die schräg auf die Hauswände der hohen Mietskasernen fiel. Alles sehr kräftig, pikant und appetitlich, wie die Speise eines haushälterischen französischen Kochs, die man nicht anders als genießen konnte, auch wenn man wusste, dass die Zutaten höchstwahrscheinlich Reste waren…
Plötzlich erschauerte Gloria. Über den dämmrigen Dächern ertönte heulend eine Flusssirene. Sie beugte sich [533] zurück, bis ihr der gespenstische Vorhang von der Schulter glitt, und knipste die elektrische Lampe an. Es wurde spät. Sie wusste, dass sie in ihrer Börse etwas Kleingeld hatte, und überlegte, ob sie hinuntergehen und dort, wo die ins Freie austretende Untergrundbahn die Manhattan Street in eine tosende Höhle verwandelte, Kaffee und Brötchen zu sich nehmen oder das verteufelte Schinkenbrot in der Küche essen sollte. Ihre Geldbörse nahm ihr die Entscheidung ab. Sie enthielt einen Nickel und zwei Cent.
Nach einer Stunde war ihr die Stille im Zimmer unerträglich geworden, und sie merkte, dass ihr Blick von der Illustrierten zur Decke gewandert war, um dort gedankenleer zu verharren. Plötzlich stand sie auf, zögerte einen Moment und kaute an ihrem Finger – dann ging sie in die Speisekammer, nahm eine Flasche Whisky vom Regal und schenkte sich ein. Sie füllte das Glas mit Ginger-Ale auf, kehrte zu ihrem Stuhl zurück und las den Artikel in der Illustrierten zu Ende. Er handelte von der letzten Witwe der Revolution, die als junges Mädchen einen uralten Veteranen der Kontinentalarmee geheiratet hatte und 1906 gestorben war. Es kam Gloria merkwürdig und sonderbar romantisch vor, dass sie und diese Frau zur gleichen Zeit gelebt hatten.
Sie blätterte um und erfuhr, dass ein Kandidat bei den Kongresswahlen von einem Gegner der Gottlosigkeit bezichtigt wurde. Glorias Überraschung legte sich, als sie nachlas, dass der Vorwurf unbegründet war. Der Kandidat hatte lediglich die wundersame Speisung der fünftausend in Abrede gestellt. Als man ihm zusetzte, gestand er, dass er der Geschichte, wie Jesus auf dem Meere daherging, vollen Glauben schenke.
[534] Als Gloria ihr Glas ausgetrunken hatte, goss sie sich ein zweites Mal ein. Nachdem sie ein Negligé übergestreift und es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, wurde ihr bewusst, wie elend ihr zumute war und dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie fragte sich, ob es Tränen des Selbstmitleids waren, und gab sich alle Mühe, nicht zu weinen, doch dieses Leben ohne Hoffnung, ohne Glück bedrückte sie, und sie schüttelte in einem fort den Kopf und zog zitternd die Mundwinkel herab, als bestreite sie eine Behauptung, die jemand anders irgendwo aufgestellt hatte. Sie wusste nicht, dass ihr Mienenspiel älter war als die Geschichte der Menschheit, dass unerträgliches und unentwegtes Leid über hundert Generationen hinweg ebendiese Gebärde der Leugnung, des Einspruchs, der Verstörtheit einer Macht darbringt, welche profunder und gewaltiger ist als der nach dem Ebenbild des Menschen geschaffene Gott und vor der dieser Gott, wenn er denn existierte, ebenso ohnmächtig gewesen wäre. Es ist eine im Herzen der Tragödie verankerte Wahrheit, dass diese Macht niemals erklärt, niemals antwortet – eine Macht, ungreifbar wie die Luft, endgültiger als der Tod.
Richard Caramel
Im Frühsommer trat Anthony aus seinem letzten Klub aus, dem Amsterdam. Inzwischen hatte er ihn kaum zweimal im Jahr frequentiert, und die Mitgliedsbeiträge waren eine wiederkehrende Belastung. Er war dem Klub nach seiner Rückkehr aus Italien beigetreten, weil es schon der Klub seines [535] Großvaters und seines Vaters gewesen war und weil man ihm,
Weitere Kostenlose Bücher