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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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mehrere Stunden akuter panischer Angst erlebt.
    Natürlich, zur Rechtfertigung seiner Lebensführung ließ sich zunächst einmal die »Sinnlosigkeit des Lebens« anführen. Als Adjutanten und Minister, Pagen und Junker, [77] Butler und Lakaien dienten diesem großen Khan tausend Bücher, die in seinen Regalen glänzten, sein Apartment und all das Geld, das ihm zufallen würde, wenn der Alte oben am Fluss an seiner letzten Moralpredigt erstickte. Von einer Welt, die mit der Gefährlichkeit von Debütantinnen und der Dummheit vieler Geraldines behaftet war, sah er sich dankenswerterweise erlöst – da eiferte er doch viel lieber der katzenhaften Unbewegtheit eines Maury nach und trug voller Stolz die aufgehäufte Weisheit verflossener Generationen zur Schau.
    Dem stand etwas gegenüber, womit sich sein Gehirn beharrlich auseinandersetzte und das es als lästigen Komplex abtat, das ihn jedoch, war es auch aus logischen Gründen verworfen und tapfer zertreten, durch den weichen Schneematsch des Spätnovembers zu einer Bücherei getrieben hatte, in der sich keines der Bücher fand, die er am dringendsten benötigte. Es ist gerechtfertigt, Anthony so weit zu analysieren, wie er selbst es vermochte; selbstredend ist jeder Schritt darüber hinaus Anmaßung. In seinem Innern stellte er eine zunehmende Angst und Vereinsamung fest. Die Vorstellung, allein zu speisen, schreckte ihn; da zog er es des öfteren vor, mit Männern zu dinieren, die er verabscheute. Reisen, die ihn einst bezaubert hatten, kamen ihm schließlich unerträglich vor, eine Angelegenheit von Farbe ohne Substanz, eine Geisterjagd nach dem Schatten seines Traums.
    ›Wenn ich im Grunde meines Wesens schwach bin‹, dachte er, ›brauche ich etwas, woran ich arbeiten kann, ja, arbeiten.‹ Der Gedanke, dass er eigentlich seichtes Mittelmaß war und weder Maurys Gelassenheit noch Dicks [78] Begeisterungsfähigkeit besaß, versetzte ihn in Sorge. Es schien tragisch, dass er nichts wollte – und doch wollte er etwas, etwas Unbestimmtes. Blitzartig ging ihm auf, was es war – ein Pfad der Hoffnung, der ihn dem entgegenführte, was er für das nahe bevorstehende und verhängnisvolle hohe Alter hielt.
    Nach Cocktails und einem Mittagessen im University Club fühlte Anthony sich besser. Er hatte zufällig zwei Männer aus seinem Studiengang in Harvard getroffen, und im Kontrast zu der grauen Schwerfälligkeit ihrer Konversation gewann sein eigenes Leben Farbe. Beide waren verheiratet. Beim Kaffee hatte der eine dem anderen, der verbindlich und anerkennend gelächelt hatte, die Abenteuer eines Seitensprungs geschildert. Beide, dachte er, waren im Keim kleine Mr. Gilberts; in zwanzig Jahren würde sich die Anzahl ihrer »Jas« vervierfacht haben, ihre Naturen vergrämt sein – dann würden sie nichts anderes darstellen als veraltete und verschlissene Maschinen, abgeklärt und überflüssig, von den Frauen, die sie zerbrochen hätten, gepflegt bis in die Senilität des hohen Alters.
    Ah, er war mehr als das, dachte er, als er nach dem Essen auf dem langen Läufer im Salon auf und ab ging und am Fenster stehenblieb, um auf die wuselnde Straße hinunterzuschauen. Er war Anthony Patch, brillant, unwiderstehlich, Erbe vieler Jahre und vieler Männer. Die Welt lag ihm zu Füßen – und jene letzte kräftige Ironie, die er ersehnte, war in Sicht.
    Wie ein herumstreunender Knabe sah er sich als etwas Besonderes auf Erden an; mit dem Geld seines Großvaters konnte er sich seinen eigenen Sockel errichten und ein [79] Talleyrand, ein Lord Verulam werden. Seine Klarsicht, seine Kultiviertheit, seine geistige Wendigkeit, all das, ausgereift und von einem Lebensziel beherrscht, das sich erst herauskristallisieren musste, würde schon noch etwas finden, woran er arbeiten konnte. In diesem Mollton verblasste sein Traum – etwas, woran er arbeiten konnte. Er versuchte, sich als Kongressmitglied zu sehen: Wie er in der Streu dieses unglaublichen Schweinestalls wühlte – inmitten der niedrigen, schweineartigen Stirnen, die er manchmal in den Tiefdruckbeilagen der Sonntagszeitungen abgebildet sah, diese besseren Proletarier, die der Nation einschmeichelnd das Gedankengut von Oberschülern vorschwatzten! Beschränkte Männer mit Schulbuchambitionen, die sich eingebildet hatten, vermöge ihrer Mittelmäßigkeit der Mittelmäßigkeit zu entkommen und einzugehen in den glanzlosen und unromantischen Himmel einer vom Volk gewählten Regierung– und die Besten, jenes egoistische und

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