Die Schönen und Verdammten
kann Dick jeden Charakter zu Papier bringen, der sich absichtlich wie ein schillernder Charakter aufführt, aber könnte er auch die eigene Schwester akkurat aufs Blatt werfen?«
Daraufhin unterhielten sie sich eine halbe Stunde lang über Literatur.
»Ein Klassiker«, brachte Anthony vor, »ist ein erfolgreiches Buch, das die Reaktion der nächsten Epoche oder Generation überlebt hat. Dann ist es gesichert, so wie eine Stilrichtung in der Architektur oder im Möbeldesign. Es hat [68] eine anschauliche Würde erlangt, die an die Stelle der Mode tritt…«
Nach einer Weile verloren die beiden jungen Männer vorübergehend Geschmack an dem Thema. Sie interessierten sich nicht sonderlich für technische Einzelheiten. Sie liebten allgemein gehaltene Feststellungen. Anthony hatte vor kurzem Samuel Butler für sich entdeckt, und die knappen Aphorismen seines Notizbuches kamen ihm wie die Quintessenz der Literaturkritik vor. Maury, sein Geist gründlich gereift von der Strenge seines Lebensplans, schien eindeutig der Klügere von beiden, doch was den Stoff anging, aus dem ihre Intelligenz bestand, so unterschieden sie sich eigentlich nicht grundlegend voneinander.
Von der Literatur kamen sie auf die Kuriositäten ihres Tagesablaufs zu sprechen.
»Wer hat den Fünfuhrtee gegeben?«
»Jemand namens Abercrombie.«
»Wie kommt es, dass du so lange dort geblieben bist? Hast wohl ’ne knusprige Debütantin kennengelernt?«
»Ja.«
»Wirklich?« Anthony erhob überrascht die Stimme.
»Eigentlich keine Debütantin. Sie sagt, dass sie vor zwei Wintern in die Gesellschaft von Kansas City eingeführt worden ist.«
»Wohl sitzengeblieben?«
»Nein«, erwiderte Maury leicht belustigt, »ich glaube, das ist das Letzte, was ich über sie sagen würde. Sie schien– nun ja, irgendwie die Jüngste dort.«
»Aber nicht so jung, dass du deinen Zug noch erwischt hättest.«
[69] »Jung genug. Ein bildhübsches Kind.«
Anthony lachte sein einsilbiges Schnauben.
»Ach, Maury, du machst wohl eine zweite Kindheit durch. Was meinst du mit ›bildhübsch‹?«
Maury starrte ratlos ins Leere.
»Ich kann sie nicht genau beschreiben – außer, dass sie bildhübsch war. Sie war – irrsinnig lebendig. Sie hat Weingummis gelutscht.«
»Was?«
»Eine Art verwässertes Laster. Sie ist ein nervöser Typ – sagt, dass sie bei Teegesellschaften immer Weingummis lutscht, weil sie da so lange auf einem Fleck herumstehen muss.«
»Worüber habt ihr geredet? Über Bergson? Bilphismus? Ob der Onestep unmoralisch ist?«
Maury ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Man konnte ihn nicht gegen den Strich bürsten.
»Wir haben sogar über Bilphismus geredet. Anscheinend ist ihre Mutter Bilphistin. Aber die meiste Zeit haben wir über Beine geredet.«
Anthony wiegte vor Vergnügen den Oberkörper vor und zurück.
»Herrje! Wessen Beine denn?«
»Ihre. Sie hat viel von ihren Beinen geredet. Als wären sie eine Art auserlesener Antiquität. Sie hat in mir den heftigen Wunsch geweckt, sie zu sehen.«
»Was ist sie von Beruf – Tänzerin?«
»Nein, ich habe herausgefunden, dass sie eine Cousine von Dick ist.«
Anthony setzte sich so jäh auf, dass sich das Kissen beim [70] Loslassen wie etwas Lebendiges aufrichtete und zu Boden fiel.
»Heißt sie etwa Gloria Gilbert?«, rief er aus.
»Ja. Ist sie nicht bemerkenswert?«
»Das weiß ich nun wirklich nicht – aber was schiere Fadheit angeht, so ist ihr Vater…«
»Nun«, unterbrach Maury ihn mit unbeirrbarer Überzeugung, »ihre Familie mag traurig sein wie Leichenbitter; dennoch neige ich zu der Annahme, dass sie ein ziemlich authentischer und origineller Charakter ist. Alle äußeren Anzeichen eines Collegeball-Girls von Yale, wie es im Buche steht – aber anders, ganz entschieden anders.«
»Weiter, weiter!«, drängte ihn Anthony. »Dick hatte mir kaum gesagt, dass sie keinen Grips im Kopf hat, da wusste ich, dass sie ziemlich gut sein muss.«
»Hat er das gesagt?«
»Geschworen hat er’s«, sagte Anthony wieder mit einem schnaubenden Lacher.
»Was der bei einer Frau unter Grips versteht, ist…«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Anthony ungeduldig, »er versteht darunter ein paar Brocken literarischer Halbbildung.«
»Genau. Eine, die meint, die jährliche Abnahme der Moral im Land sei eine äußerst gute Sache, oder umgekehrt eine, die glaubt, sie sei äußerst unheilvoll. Pincenez oder Posen. Also, dieses Mädchen hat über Beine geredet. Sie hat auch über Haut geredet –
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