Die Schönen und Verdammten
keine Biographie – sie haben eine Geschichte.«
Wieder musste Anthony lachen.
»Sie wollen doch wohl nicht behaupten, Sie seien ungeliebt?«
[89] »Nun ja, vermutlich nicht.«
»Weshalb haben Sie dann keine Biographie? Haben Sie noch nie einen Kuss bekommen, der zählt?« Noch während ihm die Worte über die Lippen kamen, atmete er tief ein, als wolle er sie zurücksaugen. Dieses Kindchen !
»Ich weiß nicht, was Sie unter ›zählen‹ verstehen«, wandte sie ein.
»Ich wünschte, Sie würden mir verraten, wie alt Sie sind.«
»Zweiundzwanzig«, sagte sie und erwiderte ernst seinen Blick. »Wie alt haben Sie mich denn geschätzt?«
»Ungefähr achtzehn.«
»Von jetzt an werde ich achtzehn sein. Ich bin nur ungern zweiundzwanzig. Das hasse ich mehr als alles andere in der Welt.«
»Zweiundzwanzig zu sein?«
»Nein. Alt zu werden und all das. Zu heiraten.«
»Wollen Sie denn gar nicht heiraten?«
»Ich will keine Verantwortung übernehmen und mich um eine Menge Kinder kümmern müssen.«
Offenbar zweifelte sie nicht daran, dass aus ihrem Mund alles gut klang. In der Annahme, sie werde an ihre letzte Bemerkung anknüpfen, wartete er fast atemlos auf ihre nächste. Sie lächelte, nicht belustigt, sondern freundlich, und nach einer Pause wurde der Abstand zwischen ihnen von einem halben Dutzend Wörtern überbrückt: »Ich wünschte, ich hätte Weingummi.«
»Die sollen Sie haben!« Er winkte einen Kellner herbei und schickte ihn zum Zigarrentresen.
»Es macht Ihnen doch nichts aus? Weingummi esse ich für mein Leben gern. Alle Welt zieht mich auf, weil ich [90] andauernd auf einem herumlutsche – immer wenn mein Daddy nicht da ist.«
»Kein Problem. – Wer sind denn alle diese Kinderchen?«, fragte er plötzlich. »Kennen Sie die alle?«
»Ach wo, aber die sind aus… ach, von überall her, nehme ich an. Kommen Sie denn nie hierher?«
»Sehr selten. Ich mache mir nicht besonders viel aus ›netten Mädels‹.«
Sofort hatte er wieder ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie zeigte den Tänzern die kalte Schulter, machte es sich auf ihrem Stuhl bequem und wollte wissen: »Was tun Sie denn sonst so?«
Es war einem Cocktail zuzuschreiben, dass Anthony die Frage begrüßte. Außerdem war er in Gesprächslaune und wollte dieses Mädchen, dessen Interesse so aufreizend schwer zu fesseln war, beeindrucken – immer wieder hielt sie inne, um auf unvorhergesehenen Weiden zu äsen, oder war hinreichend extravagant, das abgelegen Nächstliegende durchzusprechen. Er wollte sich in Positur werfen. Er wollte ihr mit einemmal in neuen und heroischen Farben erscheinen. Er wollte sie aus dieser Gleichgültigkeit aufrütteln, die sie gegen alles zeigte, nur nicht gegen sich selbst.
»Nichts«, begann er und merkte umgehend, dass seinen Worten die heitere Anmut fehlen würde, die er ihnen so sehnlich wünschte. »Ich tue nichts, denn es gibt für mich nichts zu tun, das zu tun sich lohnte.«
»Nun?« Er hatte sie weder überrascht noch gefesselt, doch hatte sie ihn gewiss verstanden, wenn er denn etwas gesagt hatte, das es wert war, verstanden zu werden.
»Billigen Sie faule Männer nicht?«
[91] Sie nickte.
»Doch, schon, wenn sie mit Anmut faul sind. Ist das denn einem Amerikaner möglich?«
»Weshalb denn nicht?«, wollte er, ganz außer Fassung, wissen.
Doch sie hatte das Thema schon wieder fallengelassen und war bereits zehn Stockwerke höher geklettert.
»Mein Daddy ist böse auf mich«, bemerkte sie nüchtern.
»Warum? Aber ich möchte gern wissen, wieso es einem Amerikaner unmöglich sein soll, mit Anmut faul zu sein« – seine Worte klangen zunehmend überzeugter –, »das verwundert mich. Es – es – ich verstehe nicht, weshalb die Leute denken, dass jeder junge Mann die zwanzig besten Jahre seines Lebens zehn Stunden am Tag in Downtown arbeiten soll – öde, phantasielose Arbeit, jedenfalls keine Arbeit, die anderen zugute kommt.«
Er brach ab. Sie beobachtete ihn auf unergründliche Art. Er erwartete, dass sie ihm zustimmen oder widersprechen würde, aber sie tat nichts von beidem.
»Bilden Sie sich eigentlich nie eine Meinung über irgendetwas?«, fragte er einigermaßen verzweifelt.
Sie schüttelte den Kopf und lenkte ihren Blick wieder auf die Tänzer, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, was jemand wie Sie oder sonst irgendjemand tun sollte.«
Sie verwirrte ihn und hemmte den Fluss seiner Ideen. Sich mitteilen zu können, war ihm noch nie so verlockend und
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