Die Schönen und Verdammten
einer Droschke und instruierte den Kutscher mit einer Miene, als habe er ein festes Ziel vor Augen, zum Broadway zu fahren und sich dann nach Süden zu wenden. Er nahm verschiedene flüchtige [95] Anläufe, sie in ein Gespräch zu ziehen; da sie sich jedoch in einen undurchdringlichen Panzer aus Schweigen hüllte und ihm mit Sätzen antwortete, ebenso griesgrämig wie das kalte Dunkel der Droschke, streckte er die Waffen, gab sich der nämlichen Stimmung hin und verfiel in düstere Schwermut.
Ein Dutzend Blocks den Broadway hinab stach Anthony eine ihm unbekannte große Leuchtschrift ins Auge, deren prächtige Lettern den Namen ›Marathon‹ ergaben und mit Neonblättern und -blumen geschmückt waren, abwechselnd erloschen und wieder auf der feucht glitzernden Straße reflektierten. Er beugte sich vor, klopfte ans Droschkenfenster und erhielt sogleich von dem farbigen Türsteher zur Antwort: Ja, Cabaret. Schönes Cabaret. Beste Show weit und breit.
»Sollen wir’s versuchen?«
Mit einem Seufzer schnippte Gloria ihre Zigarette aus dem geöffneten Schlag und schickte sich an, ihr zu folgen; dann waren sie durch das breite Portal unter der grellen Leuchtschrift eingetreten und mit einem stickigen Lift zu diesem unbesungenen Amüsierbetrieb hinaufgefahren.
Die fröhlichen Aufenthaltsorte der Reichen und der Armen, der Schicken und der Kriminellen und natürlich auch der neuerdings so beliebten Boheme werden den eingeschüchterten Mädchen der Highschools von Augusta, Georgia und Redwing, Minnesota, vorgeführt, und zwar nicht nur auf den bezaubernden illustrierten Doppelseiten in den Theaterbeilagen der Sonntagszeitungen, sondern auch durch die entsetzten und empörten Augen eines Mr. Rupert Hughes und anderer Chronisten des rasanten [96] Tempos Amerikas. Doch die Ausflüge Harlems zum Broadway, die Ausschweifungen der Abgestumpften und die Tollheiten der ehrbaren Leute bleiben das Geheimnis der Teilnehmer.
Ein Geheimtipp kursiert – und an der augenzwinkernd erwähnten Stätte finden sich an Samstag- und Sonntagabenden die unteren Klassen mit niederer Moral ein –, sorgenvolle kleine Leute, wie sie in Karikaturen als ›der Verbraucher‹ oder ›die Öffentlichkeit‹ abgebildet werden. Diese stellen sicher, dass die Vergnügungsstätte drei Kriterien erfüllt – sie ist billig; sie ahmt mit einer Art kitschiger und mechanischer Wehmut die glitzernden Mätzchen der großen Cafés im Theaterviertel nach; und das Allerwichtigste: Sie ist ein Ort, wohin man ein ›nettes Mädel‹ mitnehmen kann, was natürlich voraussetzt, dass jedes einzelne aus Mangel an Geld und Phantasie gleichermaßen harmlos, verzagt und uninteressant ist.
An Sonntagabenden stellen sich dort die leichtgläubigen, rührseligen, unterbezahlten, überarbeiteten Menschen mit zusammengesetzten Berufsbezeichnungen ein: Buch-Halter, Karten-Verkäufer, Büro-Leiter, Handels-Vertreter und vor allem Büro-Angestellte – Büro-Angestellte in Transportunternehmen, Postämtern, Lebensmittelläden, Maklerbüros und Banken. Sie haben ihre kichernden, wild gestikulierenden, lächerlich dünkelhaften Frauen dabei, die mit ihnen dick werden, ihnen zu viele Kinder gebären und ratlos und unzufrieden in einem farblosen Meer der Schinderei und der gescheiterten Hoffnungen dahintreiben.
Man benennt diese billigen Cabarets nach Pullmanwagen. Das ›Marathon‹! Hier gibt es keinen der obszönen [97] Vergleiche, die den Pariser Cafés abgeschaut sind! Hierher schleppen die folgsamen Stammgäste ihre ›netten Frauen‹, deren ausgehungerte Phantasie nur allzugern wähnt, dass die Szene vergleichsweise fröhlich und ausgelassen ist, vielleicht sogar leicht anrüchig. Hier ist der Bär los! Wer sorgt sich schon um morgen?
Menschliches Treibgut!
Anthony und Gloria setzten sich und sahen sich um. Zu der Vierergruppe am Nebentisch gesellte sich gerade eine Dreiergruppe, zwei Männer und ein Mädchen, die sich offenbar verspätet hatten – und das Benehmen des Mädchens war eine ganze soziologische Studie wert. Sie war dabei, einige neue Herrenbekanntschaften zu machen – und versuchte verzweifelt, ihnen etwas vorzuspielen. Mit Gebärden, mit Worten und kaum wahrnehmbaren Lidaufschlägen spielte sie vor, sie gehöre einer Klasse an, die der Klasse, mit der sie sich jetzt abgeben musste, ein Stück weit überlegen sei, habe noch vor kurzem in einer dünneren, höheren Luft geatmet und werde es in Bälde wieder tun. Sie tat so vornehm, dass es fast schmerzte –
Weitere Kostenlose Bücher