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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Uhr; er ließ mich gar nicht erst ausspannen, sondern wir jagten sofort hinter ihr her. Und was noch nie vorgekommen war: Man schlug mit der Peitsche auf mich ein und trieb mich zum Galopp an. Ich konnte mich nicht gleich umstellen und machte zuerst einen Fehltritt; ich schämte mich und wollte es wiedergutmachen, als ich plötzlich hörte, wie der Fürst mit zornbebender Stimme rief: ›Schneller!‹ Die Peitsche sauste auf meinen Rücken nieder, und ich galoppierte so drauflos, dass ich mit den Hufen dauernd gegen den eisenbeschlagenen Vorderteil des Schlittens stieß. Nach fünfundzwanzig Werst holten wir die Entflohene ein. Ich hatte es geschafft, zitterte aber die ganze Nacht über und konnte nichts fressen. Morgens brachte man mir Wasser. Ich trank es aus und hörte für immer auf, das Pferd zu sein, das ich gewesen war. Ich war krank, ich wurde gemartert und zum Krüppel gemacht – wurde kuriert, wie es die Menschen nennen. Meine Hufe fielen ab, es bildeten sich Geschwüre, die Beine krümmten sich, die Brust fiel ein, und mein ganzer Körper erschlaffte und wurde gebrechlich. Da verkaufte man mich an einen Pferdehändler. Dieser fütterte mich mit Mohrrüben und mit irgendwelchem Zeug und machte aus mir ein mir völlig unähnliches Wesen, mit dem man jedoch jemand täuschen konnte, der kein Pferdekenner war. Ich hatte keine Kraft mehr, keinen Schwung. Darüber hinaus marterte mich der Pferdehändler, indem er jedes Mal, wenn sich Käufer einfanden, in meine Box kam, wo er mich mit der Peitsche schlug und aufzustacheln suchte, so dass ich ganz rasend wurde. Dann wischte er die von den Peitschenhieben hinterlassenen Striemen weg und führte mich hinaus. Bei diesem Händler kaufte mich die schon erwähnte Alte. Sie fuhr dauernd in die Kirche des heiligen Nikolaus und prügelte den Kutscher. Oft kam er weinend zu mir in den Stall. Hierbei machte ich die Erfahrung, dass Tränen einen angenehmen salzigen Geschmack haben. Nach einiger Zeit starb die Alte. Ihr Verwalter nahm mich aufs Gut und verkaufte mich an einen Krämer, bei dem ich mir mit Weizen den Magen verdarb und noch ärger erkrankte. Man verkaufte mich an einen Bauern. Bei dem pflügte ich den Acker, fraß nichts und rieb mir am Pflugeisen die Füße wund. Ich war wieder krank. Ein Zigeuner tauschte mich gegen ein anderes Pferd ein. Er quälte mich entsetzlich und verkaufte mich schließlich an den Verwalter dieses Guts. Und so bin ich denn hier …«
    Alle Pferde verharrten in Schweigen. Ein feiner Sprühregen begann niederzugehen.
    9
     
    Als die Herde am Abend des folgenden Tages nach Hause zurückkehrte, begegnete ihr der Gutsherr mit einem Gast. Während sich die Pferde dem Hause näherten, musterte Shuldyba verstohlen die beiden Männer; in dem einen – dem, der einen Strohhut aufhatte – erkannte sie den jungen Gutsherrn, der andere war ein großer, dicker, aufgedunsener Offizier. Die alte Stute warf den Männern einen Seitenblick zu und ging, einen Bogen beschreibend, an ihnen vorüber. Die jungen Pferde hingegen wurden unruhig und gerieten noch mehr in Aufregung, als sich der Gutsherr und sein Gast absichtlich unter die Herde mischten und, sich miteinander unterhaltend, auf das eine und andere Pferd hinwiesen.
    »Diesen Apfelschimmel hier habe ich von Wojejkow erstanden«, sagte der Gutsherr.
    »Jene junge schwarze Stute mit den weißen Knöcheln ist auch ein Prachttier; von wem stammt sie?«, fragte der Gast.
    Sie sahen sich auf diese Weise viele der Pferde an, indem sie ihnen den Weg vertraten und sie zum Stehen brachten. Auch die braune Stute erregte ihre Aufmerksamkeit.
    »Die ist noch vom Stamm der Chrenowoer Reitpferde, von denen ich etliche zur Zucht zurückbehalten habe«, erklärte der Gutsherr.
    Es war nicht möglich, die in Bewegung befindlichen Pferde alle einzeln zu mustern. Der Gutsherr rief nach Nester; der Alte stieß die Absätze in die Flanken des Schecken und kam eiligst angetrabt. Obwohl der Schecke kranke Füße hatte und das eine Bein nachzog, kam er so bereitwillig gelaufen, dass man ihm ansah, er würde auch dann keinesfalls murren, wenn er den Befehl bekäme, in diesem Zustand unter Aufgebot seiner letzten Kraft bis ans Ende der Welt zu laufen. Er war auch bereit, zum Galopp überzugehen, und versuchte sogar, mit dem rechten Vorderbein dazu anzusetzen.
    »Ein prächtigeres Pferd als diese Stute hier, das kann ich dreist sagen, gibt es in ganz Russland nicht.« Dabei zeigte der Gutsherr auf eine der Stuten. Der Gast

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