Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Essens einen regelrechten Tobsuchtsanfall bekommen hatte, begriff sie, dass es sich bei ihm um einen krankhaften Zustand handelte, der durch das Essen hervorgerufen wurde, und beherrschte sich; sie widersprach nicht mehr, sondern war nur noch bemüht, die Mahlzeiten möglichst schnell zu beenden. Ihre Friedfertigkeit rechnete sich Praskowja Fjodorowna als großes Verdienst an. Wenn sie bedachte, wie unausstehlich der Charakter ihres Mannes war und dass er sie damit fürs ganze Leben unglücklich gemacht hatte, wurde sie von Mitleid mit sich selbst erfüllt. Und je mehr sie sich bemitleidete, umso stärker wurde sie von Hass gegen ihn gepackt. In ihr regte sich schon der Wunsch, er möge sterben, doch das konnte sie nicht wünschen, weil damit zugleich auch das Gehalt fortfiele. Dieser Umstand brachte sie noch mehr gegen ihn auf. Sie hielt ihr Geschick gerade deshalb für besonders tragisch, weil ihr selbst sein Tod keine Erlösung bringen würde; dieser Gedanke machte sie gereizt, sie suchte es zu verbergen, doch wurde durch diese versteckte Gereiztheit die Reizbarkeit ihres Mannes nur noch gesteigert.
Als es wieder einmal zu einem Zusammenstoß gekommen war, bei dem ihr Iwan Iljitsch besonders ungerechte Vorwürfe gemacht hatte, und nachdem er bei der Aussprache auch offen zugab, dass er gereizt gewesen sei, was er auf sein schlechtes Befinden zurückführte, sagte sie zu ihm, wenn er sich krank fühle, müsse er etwas dagegen unternehmen, und bestand darauf, dass er einen berühmten Arzt konsultiere.
Iwan Iljitsch fuhr zu dem berühmten Arzt. Dort fand er alles so vor, wie er es erwartet hatte; es war alles so, wie es immer zu sein pflegt: das lange Warten, das wichtige Gehabe des Arztes, das ihm nicht fremd war, weil es genau dem Gehabe entsprach, das er sich selbst zu Gerichtssitzungen zulegte, das Beklopfen und Abhorchen, die Fragen, die im Voraus festgelegte und offenbar ganz unnötige Antworten erfordern, der tiefgründige Blick, mit dem alle Ärzte ihre Patienten ansehen und der besagen soll, man brauche sich nur ihnen anzuvertrauen, sie würden die Sache schon beheben, ihnen sei mit unzweifelhafter Sicherheit bekannt, welche Mittel sie einem verordnen und wie sie ihre Patienten behandeln müssten – nämlich alle nach Schema F, um welche Krankheit es sich auch handeln möge. Alles war genauso wie auf dem Gericht. Genauso streng und prüfend, wie er selbst die vor Gericht stehenden Angeklagten anzusehen pflegte, sah der berühmte Arzt auch ihn an.
Der Arzt sagte, dies und das deute darauf hin, dass bei ihm dies und das vorliege; sollte es sich jedoch bei den und den Untersuchungen nicht bestätigen, könne man annehmen, dass es sich bei ihm um dies und das handele, und wenn man dies und das annehme, dann… und so fort. Für Iwan Iljitsch war einzig die Frage wichtig, ob sein Zustand gefährlich war oder nicht. Aber über diese ungehörige Frage ging der Arzt stillschweigend hinweg. Nach Auffassung des Arztes war diese Frage müßig und stand nicht zur Erörterung; für ihn galt es nur, die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen, ob es sich bei den Beschwerden um eine Wanderniere, einen chronischen Katarrh oder den Blinddarm handle. Es ging nicht um Iwan Iljitschs Leben, sondern um einen Streit zwischen Wanderniere und Blinddarm. Diesen Streit entschied der Arzt im Beisein Iwan Iljitschs auf souveräne Weise zugunsten des Blinddarms, mit dem Vorbehalt freilich, dass die Urinuntersuchung neue Verdachtsmomente ergeben könne und dass dann eine nochmalige Überprüfung des Falles notwendig sein werde. Alles das stimmte Punkt für Punkt mit der Manier überein, in der er selbst schon tausendmal Angeklagten gegenüber aufgetreten war. Ebenso souverän fasste der Arzt seine Schlussfolgerungen zusammen und blickte über seine Brille hinweg Iwan Iljitsch triumphierend, ja sogar vergnügt wie einen überführten Angeklagten an. Aus dem Resümee des Arztes zog Iwan Iljitsch den Schluss, dass es schlecht um ihn bestellt sein müsse, dass dies jedoch dem Arzt und wahrscheinlich auch allen andern völlig gleichgültig sei. Diese Erkenntnis war für Iwan Iljitsch äußerst schmerzlich und rief in ihm tiefes Mitleid mit sich selbst und große Erbitterung über den Arzt hervor, der sich einer solchen schwerwiegenden Frage gegenüber dermaßen gleichgültig verhielt.
Doch er unterdrückte seinen Unmut, stand auf, legte das Geld auf den Tisch, stieß einen Seufzer aus und sagte: »Wir Kranken stellen Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher