Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
wahrscheinlich oft überflüssige Fragen. Aber ich möchte doch wissen, ob es bei mir etwas Gefährliches ist.«
Der Arzt sah ihn streng durch seine Brillengläser an, als wollte er sagen: Angeklagter, wenn Sie sich nicht in den Grenzen der Ihnen vorgelegten Fragen halten, werde ich genötigt sein, Ihre Entfernung aus dem Sitzungssaal anzuordnen!
»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, was sich im Augenblick sagen lässt und wie Sie sich verhalten sollen«, antwortete der Arzt. »Alles Weitere wird sich aus der Analyse des Urins ergeben.« Und der Arzt verbeugte sich.
Iwan Iljitsch ging langsam hinaus, setzte sich missmutig in den Schlitten und fuhr nach Hause. Während der ganzen Fahrt rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, was der Arzt gesagt hatte, und war bemüht, alle diese verworrenen, unklaren medizinischen Ausdrücke in die normale Sprache zu übertragen und aus ihnen eine Antwort auf die Frage herauszulesen, ob es schlecht, sehr schlecht um ihn bestellt sei oder ob noch eine Hoffnung auf Besserung bestehe. Und der Sinn all dessen, was der Arzt gesagt hatte, schien ihm darauf hinauszulaufen, dass sein Zustand sehr ernst sei. Alles machte auf ihn jetzt einen trübseligen Eindruck: die Droschkenkutscher, die Häuser, die Straßenpassanten, die Läden. Der Schmerz, dieser dumpfe, ätzende Schmerz, den er an der einen Seite verspürte, hörte dabei keinen Moment auf und schien ihm in Verbindung mit den unklaren Redensarten des Arztes eine neue, ernstere Bedeutung anzunehmen. Und er achtete jetzt mit größerer Sorge auf diesen Schmerz.
Zu Hause angelangt, erzählte er seiner Frau von seinem Besuch bei dem Arzt. Sie hörte zu, doch mitten im Gespräch kam die Tochter ins Zimmer; sie hatte bereits ein Hütchen auf und wollte mit der Mutter irgendwohin fahren. Sie setzte sich, um diesen langweiligen Bericht mit anzuhören, hielt es jedoch nicht lange aus, und auch die Mutter stand auf, bevor er geendet hatte.
»Nun, ich bin sehr froh«, sagte Praskowja Fjodorowna. »Jetzt musst du aber auch pünktlich die verordnete Medizin einnehmen. Gib mir das Rezept, ich werde Gerassim in die Apotheke schicken«, fügte sie hinzu und ging hinaus, um sich für die Ausfahrt zurechtzumachen.
Iwan Iljitsch stockte der Atem, solange sie noch im Zimmer war, und er atmete erst tief auf, als sie sich entfernt hatte.
Nun, dachte er, vielleicht ist es wirklich noch nichts Ernstes.
Er nahm jetzt regelmäßig seine Medizin ein und befolgte alle Anordnungen des Arztes, die auf Grund des Ergebnisses der Urinuntersuchung geändert wurden. Doch nun stellte sich heraus, dass bezüglich dieser geänderten Vorschriften irgendein Missverständnis vorliegen musste, denn nach ihrer Befolgung traten nicht die vom Arzt vorausgesagten Folgen ein. An den Arzt war nicht heranzukommen, und so war es möglich, dass seinen Anordnungen zuwidergehandelt wurde. Entweder hatte der Arzt etwas vergessen oder ihn getäuscht und ihm absichtlich einen Befund verschwiegen.
Wie dem auch sei, Iwan Iljitsch führte weiterhin die Anordnungen des Arztes aus und fand dadurch in der ersten Zeit eine gewisse Beruhigung.
Seit seinem Besuch beim Arzt bestand Iwan Iljitschs wichtigste Beschäftigung darin, aufs genaueste die Anordnungen des Arztes bezüglich der Hygiene und des Einnehmens der Medikamente auszuführen sowie Obacht auf seinen Schmerz und die Funktion seines ganzen Organismus zu geben. Zugleich interessierte er sich jetzt ganz besonders für die Krankheiten und den Gesundheitszustand anderer Leute. Wenn in seiner Gegenwart von kranken, gestorbenen oder wiederhergestellten Personen gesprochen wurde, hörte Iwan Iljitsch – bemüht, seine Erregung zu verbergen – aufmerksam zu, erkundigte sich nach Einzelheiten und verglich die betreffenden Symptome mit denen seiner eigenen Beschwerden.
Die Schmerzen hielten bei ihm unvermindert an, aber er zwang sich zu der Annahme, dass sich sein Zustand gebessert habe. Diese Selbsttäuschung gelang ihm auch, solange nichts vorkam, worüber er sich aufregte. Doch sobald er unliebsame Auseinandersetzungen mit seiner Frau, Misserfolge im Dienst oder Pech beim Whistspiel hatte, spürte er sofort die ganze Stärke seiner Beschwerden. Zunächst hatte er noch versucht, sich mit solchen Misshelligkeiten abzufinden, hatte gehofft, einen Fehler im Dienst durch neue Erfolge wettzumachen, ein andermal beim Kartenspiel wieder mehr Glück zu haben; doch nun warf ihn jeder Misserfolg um und versetzte ihn in Verzweiflung. Gerade hat
Weitere Kostenlose Bücher