Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Erden nichts mehr gesehen, nichts gehört und nichts gefühlt.
    Ringsum tobte noch immer der Sturm. Noch immer wirbelte er Schneewolken auf und überschüttete damit den Pelz des toten Wassili Andrejitsch, den am ganzen Körper zitternden Muchorty und den kaum noch sichtbaren Schlitten, auf dessen Boden Nikita lag und unter seinem über ihm liegenden, nun schon toten Herrn allmählich warm wurde.
    10
     
    Vor Morgengrauen wachte Nikita auf. Wach wurde er, weil er wieder am Rücken zu frieren begann. Er hatte geträumt, dass er für seinen Herrn aus der Mühle eine Fuhre Mehl geholt, dann unterwegs beim Überqueren eines kleinen Flusses die Brücke verfehlt hatte und mit der Fuhre stecken geblieben war. Er kroch unter die Fuhre, so träumte er, und stemmte sich mit dem Rücken dagegen, um sie anzuheben. Aber sonderbar: Die Fuhre ließ sich nicht bewegen, sie war an seinem Rücken angeklebt, so dass er sie weder anheben noch darunter hervorkriechen konnte. Sein Kreuz schmerzte. Und wie kalt war die Fuhre! Er musste sich unbedingt befreien. Hör auf!, rief er im Traum demjenigen zu, der seiner Meinung nach die Fuhre gegen seinen Rücken drückte. Nimm die Säcke herunter! Aber die Fuhre drückte ihn immer stärker und wurde immer kälter, bis er plötzlich mehrere Stöße verspürte, davon aufwachte und sich auf die Wirklichkeit besann. Die kalte Fuhre, das war sein erfrorener toter Herr, der auf ihm lag. Und die Stöße kamen daher, dass Muchorty mit den Hufen mehrmals gegen die Schlittenwand geschlagen hatte.
    »Andrejitsch, hör doch, Andrejitsch!«, rief Nikita, der den wahren Sachverhalt bereits ahnte, leise seinen Herrn und versuchte, sich vorsichtig aufzurichten.
    Allein Wassili Andrejitsch gab keine Antwort, und sein Bauch und die kräftigen Beine lasteten kalt und wuchtig wie schwere Gewichte auf Nikita.
    »Er wird wohl schon tot sein. Gott hab ihn selig!«, murmelte Nikita.
    Er drehte den Kopf hin und her, streifte mit der Hand den Schnee von sich ab und schlug die Augen auf. Es war jetzt hell, aber der Wind fuhr nach wie vor pfeifend durch die Deichselstangen, und es schneite immer noch, nur mit dem Unterschied, dass der Schnee jetzt nicht gegen die Schlittenwand peitschte, sondern sich lautlos immer höher über dem Schlitten und dem Pferd aufschichtete, und weder die Bewegungen des Pferdes noch seine Atemzüge waren zu hören. Sicherlich ist auch er erfroren, dachte Nikita in Gedanken an Muchorty. In der Tat waren die Hufschläge gegen den Schlitten, die Nikita geweckt hatten, die letzte Kraftanstrengung des vor Kälte schon völlig erstarrten Pferdes gewesen, sich auf den Beinen zu halten.
    »Gott, du mein Herr, jetzt rufst du wohl auch mich«, murmelte Nikita vor sich hin. »Dein Wille ist geheiligt. Aber mir ist bange. Nun ja, sterben muss jeder einmal, und um dies eine Mal kommt keiner herum. Wenn es bloß schneller gehen möchte …« Dann steckte er die Hand wieder zurück, schloss die Augen und ergab sich seinem Schicksal, fest überzeugt, er werde jetzt ganz bestimmt und endgültig sterben.
    Schon um die Mittagszeit des nächsten Tages wurden Wassili Andrejitsch und Nikita – etwa dreißig Sashen von der Landstraße und eine halbe Werst vom Dorf entfernt – von Bauern aus dem Schnee gegraben.
    Der Schnee lag so hoch über dem Schlitten, dass nur noch die Deichselstangen und das daran befestigte Tuch herausragten. Muchorty, über und über weiß, stand mit dem von seinem Rücken herabgeglittenen Hintergeschirr und Sackleinen bis an den Bauch im Schnee und hatte den leblosen Kopf gegen den knöchernen Adamsapfel gepresst; an seinen Nüstern hingen Eiszapfen, und die Augen, mit Reif bedeckt und gleichfalls vereist, sahen aus, als seien darin die Tränen gefroren. In dieser einen Nacht war er derart abgemagert, dass er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Wassili Andrejitsch, steif wie ein Stück gefrorenes Schlachtvieh, wurde in derselben Haltung, so wie er sich mit gespreizten Beinen auf Nikita gelegt hatte, auch von ihm heruntergehoben. Seine vorstehenden Habichtsaugen waren völlig vereist, und der Mund war voll Schnee. Nikita war zwar auch völlig vereist, jedoch am Leben. Nachdem man ihn geweckt hatte, war er zunächst überzeugt, dass er schon gestorben sei und dass sich alles, was jetzt mit ihm geschah, nicht mehr in dieser Welt, sondern bereits im Jenseits zutrug; er wunderte sich nur, als er das Geschrei der Bauern hörte, die ihn ausgruben und den erstarrten Wassili Andrejitsch

Weitere Kostenlose Bücher