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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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jetzigen Lage glauben wollte. Ob ich das alles nur träume?, dachte er und versuchte aufzuwachen. Aber es war kein Traum, es war wirklicher Schnee, der ihm das Gesicht peitschte und auf ihm liegen blieb; seine rechte Hand, deren Handschuh er verloren hatte, war wirklich steif vor Kälte, und es war eine wirkliche Einöde, in der er jetzt ebenso wie jenes Beifußgebüsch mutterseelenallein zurückgeblieben war und einem unabwendbaren, baldigen und sinnlosen Tod entgegensah.
    Himmlische Königin, heiliger Nikolaus, Lehrer der Enthaltsamkeit…, wiederholte Wassili Andrejitsch in Gedanken die Gebete des gestrigen Gottesdienstes; er erinnerte sich des Heiligenbildes mit dem schwarzen Antlitz und dem goldenen Messgewand sowie der Kerzen, die er zum Aufstellen vor dieses Heiligenbild verkaufte und die man ihm, kaum dass sie ein wenig abgebrannt waren, wieder zurückbrachte und die von ihm dann in einem Kasten verwahrt wurden. Und jetzt betete er zu ebendiesem wundertätigen Nikolaus, dass er ihn retten möge, und versprach ihm dafür einen Dankgottesdienst und Kerzen. Doch gleich darauf wurde ihm klar, dass dieses Antlitz, das goldene Messgewand, die Kerzen, der Priester, die Bittgebete – dass alles das wohl in der Kirche sehr wichtig und nötig war, ihm hier aber nicht helfen konnte, und dass zwischen diesen Kerzen und Bittgebeten und seiner gegenwärtigen unheilvollen Lage kein Zusammenhang bestand und auch nicht bestehen konnte. Ich darf nicht den Mut verlieren, dachte er. Ich muss den Spuren des Pferdes folgen, bevor sie noch ganz verweht werden. Sie werden mich von hier herausführen, sagte er sich, und vielleicht kann ich dann auch das Pferd selbst wieder einfangen. Nur darf ich mich nicht übereilen, damit ich nicht vor Erschöpfung zusammenbreche und dann ganz gewiss erfriere. Aber trotz seiner Absicht, langsam zu gehen, rannte er ungestüm los, fiel dabei alle Augenblicke hin, stand auf und fiel abermals hin. An Stellen, die nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren, ließen sich die Spuren des Pferdes kaum noch erkennen. Ich bin verloren, dachte Wassili Andrejitsch, denn wenn ich die Spuren verliere, kann ich das Pferd nicht einholen. . . Doch im selben Augenblick nahm er, als er nach vorn blickte, etwas Schwarzes wahr. Es war Muchorty, und nicht nur Muchorty, sondern auch der Schlitten mit den aufgerichteten Deichselstangen und dem daran befestigten Tuch. Muchorty, an dessen einer Seite das abgerutschte Sattelgeschirr und die Sackleinendecke herabhingen, stand jetzt nicht an der früheren Stelle, sondern näher an den Deichselstangen und schüttelte den Kopf, der von den Zügeln, auf die er getreten war, nach unten gezogen wurde. Es stellte sich heraus, dass Wassili Andrejitsch in dieselbe Vertiefung eingebrochen war, in der er und Nikita schon vorher steckengeblieben waren, dass Muchorty ihn zum Schlitten zurückgeführt hatte und dass er nicht weiter als fünfzig Schritte vom Schlitten entfernt von ihm abgesprungen war.
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    Nachdem sich Wassili Andrejitsch mühsam bis zum Schlitten geschleppt hatte, stützte er sich auf ihn und blieb dort, bemüht, sich zu beruhigen und zu verschnaufen, lange unbeweglich stehen. Nikita befand sich nicht mehr auf seinem früheren Platz, aber im Schlitten lag eine mit Schnee bedeckte Masse, und Wassili Andrejitsch erriet, dass es Nikita war. Wassili Andrejitschs Angst hatte sich inzwischen völlig gelegt, und in Schrecken versetzte ihn nur noch der Gedanke an den grauenvollen Angstzustand, in dem er sich beim Ritt durch die Schneewüste und besonders danach befunden hatte, als er allein inmitten der Schneemassen zurückgeblieben war. Von dem Gedanken an jenen Zustand durfte er sich nicht übermannen lassen, und um das zu verhindern, musste er irgendetwas tun, sich irgendwie beschäftigen. Das Erste, was er tat, bestand darin, dass er sich mit dem Rücken gegen den Wind stellte und seinen Pelz zurückschlug. Anschließend, nachdem er sich etwas verschnauft hatte, schüttelte er den Schnee aus den Stiefeln und aus dem linken Handschuh – der rechte war unwiederbringlich verloren und lag jetzt wahrscheinlich irgendwo einen halben Arschin tief unterm Schnee –, zog den Gürtel wieder unter der Taille fest, wie er es gewöhnlich tat, wenn er aus dem Laden trat, um von den Bauern das in Fuhren herangeschaffte Getreide zu kaufen, und schickte sich an, sich zu betätigen. Vor allem machte er sich daran, den Fuß des Pferdes zu befreien, und nachdem er dies vollbracht und

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