Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
seid doch früher auch gewandert!«
Stephan hatte diesen Vorschlag schon des Öfteren unterbreitet, doch er bekam die Antwort, die er bereits unzählige Male erhalten
hatte. Das ginge nicht, diese Autofahrerei vertrage sie, Mutter, nicht mehr, ihres Rückenleidens wegen. Die Bahn hingegen
sei so teuer geworden. Natürlich fahre man schon noch mal weg, aber nicht jetzt. Ob er aber nicht Lust habe, mal vorbeizukommen?
Ein Wochenende nur. Das nächste zum Beispiel. Vater würde sich bestimmt sehr freuen!
»An sich gern«, sagte Stephan, entschuldigte sich aber mit einem Vorentwurf, der in zwei Wochen fertig werden müsse, der Grund,
weshalb er überhaupt keine Zeit habe.
|71| Mutter schwieg. Dann sagte sie betont leise, dass sie enttäuscht sei. Und wieder lauter: Gerade jetzt, wo es Vater so schlecht
gehe, ihr Sohn aber derart schroff reagiere, da müsse sie schon sagen, das hätte sie nicht gedacht.
Das sei nicht schroff gemeint gewesen, er müsse nur diesen verdammten Vorentwurf fertigstellen, sagte Stephan mit aufkeimendem
Zorn.
Das habe er schon vor fünf Wochen behauptet, sagte Mutter. Ob er sie anlüge, fragte sie noch. Dann hörte Stephan ein gebrochenes
Schluchzen, seine Mutter fragte, ob sie ihn später noch einmal anrufen dürfe, sie könne gerade nicht mehr. Dann legte sie
auf.
Und trat, sich augenblicklich wieder fassend, mit nicht wenig Schwung ins Wohnzimmer, in dem ihr Mann tatsächlich im Sessel
saß. Allerdings recht vergnügt, da er ein spannendes Bundesligaspiel verfolgte und es sich zwischen Kissen, eine weiche Wolldecke
über die Beine gelegt, mit größter Behaglichkeit eingerichtet hatte. Seine Frau stand lächelnd vor ihm, einen Arm in die Hüfte
gestemmt, und sagte: »Stephan kommt nächstes Wochenende vorbei!« – »Na, das ist doch schön!«, sagte ihr Mann, dann könne man
ja mal einen Spaziergang machen. Daraufhin, mit einer wegwerfenden Handbewegung, bat er seine Frau zu schweigen, da ein womöglich
spielentscheidender Eckstoß der Ausführung harrte.
Stephan, der tatsächlich einen Vorentwurf für ein Seminar fertigstellen musste, der Abgabetermin war allerdings erst in vier
Wochen, schritt unruhig in seinem Zimmer umher, wütend darüber, aus derart kleinen Verhältnissen entsprungen zu |72| sein, dass seine und die Lebenswelt seiner Eltern mittlerweile, denn er war vor einigen Jahren zum Studium in die Hauptstadt
gezogen, weit auseinanderklafften. Fernen Kontinenten gleich, dachte er kurz, auf denen die Sitten und Gebräuche so unterschiedlich
seien, dass eine Verständigung bei wechselseitigen Besuchen nur mit größter Mühe gedeihe.
Das ist anders als bei den meisten meiner Freunde, dachte Stephan. Kirsten zum Beispiel, seine WG-Mitbewohnerin. Deren Mutter
ist Journalistin. Einst war sie politisch engagiert, heute trinkt sie häufig mit Kirsten Wein in der Küche und erzählt von
ihrer eigenen, im Tochterleben gespiegelten Jugend. Konflikte werden zwischen den beiden mit leichten Scherzen ausgetragen.
Manchmal ermahnt die Mutter Kirsten, nicht so strebsam und brav zu sein. Seit drei Jahren sei sie schon mit ein und demselben
Freund, einem ziemlich aufgeräumten Jura-Absolventen, liiert. Ob das nicht unnatürlich sei? Dann lachen Tochter und Mutter
immer sehr herzhaft und stoßen mit ausgesprochen bauchigen Weingläsern an. Für gewöhnlich gehen sie noch gemeinsam in ein
Restaurant und setzen das Gespräch über Männer, die Köpfe vertraulich zueinander gebeugt, fort.
Stephan trat ans geschlossene Fenster. Unvorstellbar, dachte er, dass er jemals so inniglich vor seinem Vater oder seiner
Mutter sein Seelenleben ausbreiten könnte. Er blickte auf die vierspurige Straße. Es dämmerte, die meisten Autos hatten bereits
die Scheinwerfer eingeschaltet.
Seine Eltern hatten es schon schwer gehabt, dachte er. Diese rheinische Enge, der sie entstammten, dieser dort übliche, alle |73| Vernunft überschreitende Wasch- und Putzzwang im gepflegten Mehrfamilienhaus, der Filterkaffee, während man überall um sie
herum bereits Espresso trank.
Doch dieses Leben schien ihm nur scheinbar gestrig, vielmehr hatte es, dachte er sich, eigentlich nichts mehr gemein mit der
kleinbürgerlichen Welt vergangener Zeiten. Er erinnerte sich an seinen Großvater. Während einem seiner behäbigen Spaziergänge
hatte ihn vor fünf Jahren der Schlag tödlich getroffen. Spaziergänge, die er zuletzt, eines Augenleidens wegen (Makula-Degeneration),
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